Der Begriff der „Toxischen Männlichkeit“ — und wie wir damit umgehen können

Geniale Bezeichnung oder Frontalangriff? Svenja Gräfen bezieht Position.

Der Begriff Toxische Männlichkeit kommt aus der Soziologie und wird inzwischen so selbstverständlich wie inflationär verwendet — in alltäglichen Gesprächen über Sexismus, in TV-Beiträgen über Incels, in Artikeln über Paarbeziehungen, Care-Arbeit und Queerfeindlichkeit sowie ganz generell in feministischen Diskursen. Griffig ist er allemal: „Toxisch“, also giftig, schädlich, gefährlich — da springt gleich ein Alarm an und wir wissen: das verheißt nichts Gutes! Aber wie angemessen ist dieser Begriff? Und was genau soll denn dieses Toxische überhaupt sein, welche Art von Männlichkeit ist in dem Zusammenhang gemeint? Ist es die Männlichkeit™ an sich? Sind Maskulinität und Mannsein per se giftige, gefährliche Angelegenheiten? Und falls dem so sein sollte, müssen wir diese Tatsache dann schlicht hinnehmen und aushalten?

Zumindest ist es nicht so, als gäbe es keinerlei Widerstand — den gibt es beispielsweise in Form des Hashtags #NotAllMen („nicht alle Männer“), mit dem sich gegen ein Pauschalisieren gewehrt und ganz bewusst vom Begriff der Toxischen Männlichkeit abgegrenzt wird, ohne sie jedoch komplett infrage zu stellen. Nach dem Motto — Klar, mit Sicherheit gibt’s diese toxische Männlichkeit, klar gibt es toxische Männer, misogyne Frauenfeinde, Patriarchen, Gewalttäter, aber ich? Nein! Ich bin einer von den Guten.

Soweit verständlich, denn wer behauptet schon gerne von sich selbst, nach toxischen Mustern zu handeln oder gar eine Bedrohung zu sein? Und schon sind wir bei einem der größten Probleme des Begriffs angekommen: Er löst das unmittelbare Verlangen nach Abgrenzung aus — und verhindert damit in vielen Fällen eine tatsächliche Auseinandersetzung mit dem, was nun eigentlich gemeint ist.

Wovon sprechen wir hier eigentlich?

Zunächst das Wichtigste: Toxische Männlichkeit meint und verurteilt keine einzelnen Individuen, sondern beschreibt eine strukturelle Problematik. Es geht also nicht um toxische Männer, sondern eben um toxische Männlichkeit — diese Unterscheidung mag zunächst unauffällig wirken, ist jedoch von großer Bedeutung. Toxische Männlichkeit will nicht pauschalisierend alle Jungen, Männer sowie Maskulinität an sich abwerten oder verteufeln, sondern bezieht sich auf bestimmte Rollenbilder, traditionelle Gendernormen sowie daraus resultierende Verhaltensweisen, die mitunter toxisch, schädlich, und ja, durchaus auch gefährlich sein können.

Dass gewisse Normen und Narrative in unserer Gesellschaft nach wie vor aufrechterhalten und reproduziert werden, ist weder ein Geheimnis noch eine Überraschung, und häufig geschieht dies mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass an ein Hinterfragen gar nicht erst zu denken ist. Jungs sind stark, Mädchen emotional; Jungs weinen nicht, Mädchen müssen beschützt werden. Boys will be boys. Du wirfst wie ein Mädchen! — Vermeintlich Weibliches wird aus Gründen der Distinktion und Identitätsstiftung abgewertet. Aus solchen Narrativen erwächst enormer Druck, erst recht, wenn es an alternativen Erzählungen oder Vorbildern mangelt. Wer „ein richtiger Mann“ sein will, muss sich so-und-so verhalten. Dasselbe gilt natürlich für Mädchen bzw. Frauen — auch hier bestehen patriarchal geprägte, stereotype Rollenbilder fort, denen es als „richtige Frau“ zu entsprechen gilt. Diese strikte Binarität sowie diese sozialen Konstrukte der Männlich- und Weiblichkeit können durchaus schädlich sein, für Frauen ebenso wie für Männer — von Menschen, die trans*, inter* und/oder nichtbinär sind ganz zu schweigen. 

Kinder, denen bei Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wird, werden männlich sozialisiert — was heißt, sie werden entsprechend vorherrschender Stereotype und Normen sozialisiert, die mit kulturellen Vorstellungen von Männlichkeit verknüpft sind. Ihnen wird beigebracht, ihre Gefühle zu verdrängen, herunterzuschlucken, bloß nicht nach außen zu zeigen — es sei denn, es handelt sich um Gefühle, die eben wiederum mit „Männlichkeit“ assoziiert werden, wie etwa Ärger oder Wut. Zur Folge hat das nicht nur, dass Männer oft dazu neigen, ihre körperliche wie psychische Gesundheit zu vernachlässigen, Ärzt*innentermine aufzuschieben und zu verschweigen oder zu ignorieren, wenn es ihnen nicht gut geht — sondern häufig auch, dass auf Unsicherheiten mit Aggressivität reagiert und Gewalt als legitimes Mittel anerkannt wird, um Konflikte zu lösen. Und hier richtet sich toxische Männlichkeit — also vermeintlich „männliches“, aber einer toxischen Norm entsprechendes Verhalten — dann nach außen und wird gefährlich für andere Menschen. Zudem toxisch an toxischer Männlichkeit: Sie vermittelt durch die Überhöhung des eigenen Selbst und die Abwertung anderer (beispielsweise Frauen oder genderqueeren Personen) eine falsche Sicherheit — etwas, woran man sich festhalten kann („Im Gegensatz zu anderen bin ich ein richtiger Mann!“). Dadurch kann es schnell zu einer Überidentifikation kommen, was spätestens dann zum Problem wird, wenn die Verhaltensweisen, an die man die eigene Identität knüpft, kritisiert oder hinterfragt werden. Dann landen wir nämlich wieder bei der individuellen Person, bei individuellem Fehlverhalten — und nicht bei den dahinterstehenden Strukturen.

Das Problem des Begriffs

Wie schon erwähnt, kann der Begriff allein bereits Abwehrmechanismen und Widerstand hervorrufen und somit eine Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Problem verhindern. Was also tun — ihn nicht verwenden oder nur unter bestimmten Voraussetzungen?

So sehr ich Verfechter*in der Tatsache bin, dass Sprache ohnehin permanent im Wandel ist, so schwer tue ich mich in einigen Fällen damit, feststehende Begriffe auszutauschen. Beispielsweise wird in regelmäßigen Abständen die Frage laut, ob Feminismus denn noch ein zeitgemäßer Begriff ist. Oft genug grenzen sich die Kritiker*innen des Begriffs gleich ganz davon ab: Für Geschlechtergerechtigkeit seien sie schon, sicher, aber nicht unter diesem Schlagwort. Und entsprechend schwieriger ist es mit Begriffen, die ein konkretes, strukturelles Problem benennen, zu dem auch Individuen beitragen — nehmen wir das Beispiel Rassismus. Auch hier ist es für Nicht-Betroffene oft zu einfach, sich abzugrenzen: Rassist*innen, das sind immer die anderen, wir selbst haben nichts damit zu tun! Um jedoch das strukturelle Problem Rassismus lösen zu können, ist es wichtig, dass wir uns auch mit unserem eigenen verinnerlichten Rassismus auseinandersetzen — angefangen damit, dass wir überhaupt (an)erkennen, selbst nicht frei davon zu sein. Und zwar nicht, weil wir alle unbedingt Rassist*innen sein wollen — im Gegenteil! Wir möchten (hoffentlich) absolut keine Rassist*innen sein, aber wir leben nun einmal in einer Gesellschaft, in der es strukturellen Rassismus gibt, der unsere Sozialisation, unser Weltbild, unsere Denkmuster geprägt hat und noch immer prägt. Und genauso verhält es sich letztlich mit dem Begriff der Toxischen Männlichkeit. In seiner emotionalen Aufgeladenheit sorgt er, einmal erwähnt, sogleich für ein Abgrenzungsbedürfnis, eben für dieses eingangs erwähnte „Ich bin nicht toxisch, ich bin einer von den Guten“. 

Vielmehr als den Begriff zu problematisieren halte ich es daher ganz besonders in der pädagogischen Arbeit für elementar, darüber zu sprechen, was konkret dahinter steckt — Strukturen, Machtverhältnisse, Rollenbilder und ihre Folgen — und so deutlich wie möglich zu machen, dass eine Auseinandersetzung mit all dem eben nicht bedeutet, einem Jungen, Mann oder einer trans*maskulinen Person zu sagen: „Hey, du bist toxisch!“, sondern: „Hey, es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch du mit einem Männerbild aufgewachsen bist, dass dir bestimmte Verhaltensweisen ans Herz legt und andere nicht. Das macht dich natürlich nicht automatisch zu einem schlechten Menschen, aber es könnte dich in vielerlei Hinsicht limitieren — die gute Nachricht ist: du kannst diese Rollenbilder aufbrechen und es dir selbst dadurch leichter machen!“

Eine weitere Möglichkeit könnte es sein, den Begriff an sich zunächst keine große Rolle spielen zu lassen — also eher als ein Problem mit einem Schlagwort zu benennen oder sogar abzuhaken („Toxische Männlichkeit ist schlecht!“), wird das Problem besprochen und reflektiert, wird gemeinsam nach Lösungsansätzen gesucht — denn um etwas ändern und/oder verlernen zu können, ist im ersten Schritt wichtig, die Existenz des Problems wahrzunehmen und zu erkennen. 

Keine Gewinner*innen im Patriarchat

Weder die Existenz des Begriffs der Toxischen Männlichkeit noch die Auseinandersetzung damit bedeutet, dass Jungs nicht mehr stark sein, nicht mehr toben oder Fußball spielen dürfen — sondern schlicht, dass sie genauso wenig darauf festgelegt sind wie auf andere stereotyp „männliche“ Verhaltensweisen. Sie dürfen verletzlich sein, Schwächen und Ängste zeigen und sowieso die gesamte Bandbreite menschlicher Emotionen. Sie dürfen — selbstverständlich! — Junge sein, Mann sein, sich männlich fühlen, wenn sie das möchten, aber sie müssen dafür eben keinen veralteten Rollenbildern entsprechen, die nicht bloß ihnen selbst schaden, sondern in Form von Bedrohung und u.a. sexualisierter Gewalt viel zu häufig auch anderen Menschen, insbesondere Frauen. Es geht darum, zu vermitteln, dass Selbstwertgefühl auch anders und vor allen Dingen auf viel nachhaltigere Weise generiert werden kann als über die Abwertung und Unterdrückung anderer. Und letztlich geht es auch darum, dass sich, „Ja, alle Männer […] Gedanken über ihre Männlichkeit machen [müssen]. Nicht, weil sie sich bei jedem zwangsläufig in Gewalt gegen sich und andere äußert. Sondern weil in unserer mitteleuropäischen Gesellschaft Männlichkeit ein Übermaß an Privilegien mit sich bringt. Zumindest für weiße heterosexuelle Cis-Männer“, wie der Journalist Julian Dörr für die Süddeutsche Zeitung schreibt. Bestimmte Privilegien gehen mit Männlichkeit einher, gar keine Frage. Doch selbst diese Privilegien befreien andererseits eben nicht von schädlichen Limitierungen, die patriarchale Strukturen auch für Männer mit sich bringen. Das Patriarchat kennt letztlich keine reinen Gewinner*innen — und genau deswegen müssen wir weiterhin mit vereinten Kräften dagegen ankämpfen. Zum Wohle aller.