Wie wird über weibliche Gewalt berichtet? Claudia Wallner über die Skandalisierung einer vermeintlich ‘unnormalen’ Gewalt.
Immer, wenn Mädchen Gewalt ausüben, explodiert die mediale Entrüstung und die Angst vor einer nun vollkommen entfesselten Jugend wird geschürt: Wenn nicht mal mehr Mädchen friedfertig sind, wohin soll uns das dann noch führen? Dieses bei jeder brutalen Gewalttat, die von Mädchen begangen wird, wiederkehrende Narrativ sagt viel aus über tief verwurzelte konservative Geschlechterbilder, die wir bereits überwunden wähnten. Jüngste Beispiele: die Tötung eines jungen Mädchens durch zwei minderjährige Freundinnen und das Quälen eines Mädchens durch eine Gruppe minderjähriger Mädchen.
„Nach Tod von Luise: Nächster Fall von Mädchengewalt löst Entsetzen aus“ (Watson 22.3.23)
„Entsetzen über Mädchengewalt: 13-Jährige gequält und gefilmt“ (BR24 22.02.23)
„Jung, weiblich, handgreiflich: Warum und wie Mädchen Gewalt ausüben“ (rnd Aufruf 27.03.23)
Insbesondere das Magazin „der Spiegel“ tut sich seit 25 Jahren hervor mit Skandalberichten über Mädchengewalt:
- „‘Da bleibt keine Nase heil‚“: „Brutalität unter Jugendlichen ist nicht länger eine Domäne von Jungen – immer mehr Mädchen prügeln und foltern. Die Experten rätseln: Ist das die Kehrseite der Emanzipation oder notwendige Anpassung in einer roher werdenden Gesellschaft?“
- „Mädchengewalt: ‚Bist du Scheisse, schlacht ich dich‘“: „18 Jahre, brutal, weiblich: Junge Mädchen reißen anderen Haare und Ohrringe aus, boxen sie mitten ins Gesicht und treten noch zu, wenn die Opfer schon am Boden liegen. Jugendliche Gewalt ist längst keine Männersache mehr. Die Polizei warnt davor, die ’Engelsgesichter’ zu unterschätzen.“
- „Gewalt unter Mädchen. Lidstrich und Leberprellung“: „Gewalt ist keine Frage des Geschlechts, auch Mädchen lassen bei Konflikten zunehmend die Fäuste sprechen. Nadine, 17, ist mit Kontrahentinnen nicht zimperlich. Nur in Stöckelschuhen hält sie sich zurück: ‘Das schaut überhaupt nicht gut aus.“
Sind Jungen gewalttätig, ist das den Medien nur dann eine Schlagzeile wert, wenn sie als Geflüchtete oder Migranten zugeordnet werden. Bei Mädchen steht das Geschlecht im Fokus, die Herkunft wird dethematisiert. Sind sie dann auch noch minderjährig, wird gefühlt der Untergang des Abendlandes ausgerufen. Allein weißen, deutschen Jungen scheint das Gewaltmonopol relativ skandalfrei zugestanden zu werden.
An den Titeln, Teasern und Inhalten medialer Berichte wird deutlich, welche Vorstellungen von Geschlechtern ihnen zugrunde liegen und wie wenig die Modernisierung der Geschlechterverhältnisse hier vorangeschritten ist:
Die Emanzipation ist Schuld
Bereits zu Zeiten der RAF kam dieser Topos auf, denn auf den Fahndungsplakaten wurde auf einen Blick sichtbar, dass die meisten der Top-Terrorist*innen weiblich waren. Auch damals beklagten Medien bereits, dass Frauen nur deshalb gewalttätig würden, weil sie aus ihrer angestammten weiblichen Rolle, die eben sozial, sittsam und friedfertig sei, durch die Frauenbewegung heraus geholt würden und sich zunehmend wie Männer verhalten würden. Dieses Argument findet sich auch im aktuellen Mediendiskurs wieder, wenn Mädchengewalt als ‘Kehrseite der Emanzipation‘ interpretiert wird.
Vermeintliche Rollenkonfusionen
Nicht umsonst wird in den Artikeln rekurriert auf als weiblich deklariertes Aussehen: Engelsgesichter, Stöckelschuhe, Lidstrich. Das Schöne ist weiblich, nicht die Gewalt, die damit nicht in Einklang zu bringen ist. Das alte Lied: Das Weibliche ist zart, friedvoll, der Schönheit verschrieben. Gewalt gehört zum Männlichen: hart, brutal, durchsetzungsfähig, übergriffig. Während Biologie, Soziologie, Psychologie oder Gehirnforschung schon längst beschreiben, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt und Verhaltensweisen nicht der Geschlechtszugehörigkeit zugeschrieben werden können, ruft der Diskurs um gewalttätige Mädchen wieder die alten binären Geschlechterbilder und Theorien von angeborenen Verhaltensweisen qua Geschlecht auf.
Mädchengewalt nimmt zu
Auch diese These wird seit mindestens 25 Jahren gebetsmühlenartig hervorgeholt, wann immer Mädchen gewalttätig werden, obwohl entsprechende Statistiken oder gar Forschungen bis heute fehlen. Einerseits greifen diese Dramatisierungen den allgemeinen Jugenddiskurs auf, der Generation für Generation die jeweils aktuelle Jugend als die Schlimmste ever bezeichnet. Andererseits verkauft es sich besser, wenn Skandale oder erschreckende Ereignisse/Verhaltensweisen als immer schlimmer werdend beschrieben werden. Können Medienkonsument*innen sich dann doch gruseln in der Vorstellung, die Welt ginge zugrunde. Und so wundert es nicht, dass die Tötung des Kindes Luise durch Klassenkamaradinnen zum Thema von TV-Magazinen und Talkshows wurde. Gewalt und Mädchen werden offenbar als eine nahezu unnatürliche Kombination empfunden und deshalb entsprechend dramatisiert und aufgeplustert.
Gewalt von Mädchen macht große Gesellschaftsthemen auf
„Soll das Strafmündigkeitsalter gesenkt werden?“ wird bei „Markus Lanz“ diskutiert und die „BILD“ fragt: „Sollen Eltern strafunmündiger Kinder bestraft werden?“ Ein furchtbares Tötungsdelikt und eine Gruppenquälerei (wobei jeder Gewaltakt zu verurteilen und zu viel ist) und schon diskutiert das Land, ob die Errungenschaften des Jugendstrafrechts gekippt werden sollten und ob „Eltern haften für ihre Kinder“ nicht auch bei Straffälligkeit gelten müsse. Gäbe es diese Diskussionen und Forderungen auch, wenn Jungen diese Taten begangen hätten? Sicher nicht, das lässt sich medial nachverfolgen. In diesen Fällen wird dann eher über die Mediennutzung von Jungen diskutiert. Da erschauert mensch kurz und wendet sich wieder ab. Gewalt ausübende Mädchen aber scheinen eine moralische Grenze zu überschreiten, die reflexhafte Forderungen nach Höchststrafen auslösen.
Einzelfälle von Mädchengewalt, so schrecklich sie auch sind, irritieren die vorherrschenden Geschlechtervorstellungen so massiv, dass eine mediale und politische Welle ausgelöst wird, die nicht anders zu erklären ist, als dass eben diese Gewalt als ’unnormal’ empfunden wird. Und das wiederum zeigt, welche Vorstellungen von Geschlecht/ern in den Medienköpfen schlummern. Vielleicht wird es eher Zeit für eine gründliche Entstaubung dieser als für härtere Gesetze, insbesondere was Kinder angeht.