Feminizide: Weder erfasst, noch erforscht, noch anerkannt. Ein Interview mit Marlene Pardeller

Warum es in der Debatte um Feminizide in Deutschland Nachholbedarf gibt, erklärt Marlene Pardeller im Gespräch zum neuen Buch

Diskussionen um Rammstein, die Umfrage von Plan International, nach der jeder dritte Mann Gewalt gegen Frauen befürworte und erschreckende Statistiken des Bundeskriminalamts: Öffentlich wird derzeit viel über geschlechtsbasierte Gewalt diskutiert. Trotzdem: Den Begriff des „Femizids” oder „Feminizids“ hört man weiterhin selten, weder in der Politik, noch in der Berichterstattung. Wir sprachen mit Marlene Pardeller über ihr neues Buch Feminizide. Grundlagentexte und Analysen aus Lateinamerika, das sie zusammen mit Merle Dyroff, Sabine Maier und Alex Wischnewski herausgegeben hat. Ein Gespräch über Begriffe, Leerstellen und das Warten auf Statistiken.

Marlene Pardeller, woher stammt der Begriff „Femizid“?

Soweit wir wissen, wurde der Begriff „femicide“ (engl.) das erste Mal in englischsprachigen Kontexten verwendet, zuerst 1976 von der Soziologin Diane Russell auf der ersten autonom organisierten internationalen Frauenkonferenz in Brüssel. Der Begriff ist im Englischen ganz nah an „homicide“ (zu dtsch. Tötung). Diane Russell wollte mit dieser Unterscheidung herausstellen, dass es um geschlechtsbasierte Tötungen geht. In der spanischen Sprache funktioniert das ähnlich: „femicidio“ hat die Nähe zu „homicidio“. So verbreitete der Begriff sich auch im lateinamerikanischen Raum. Im Deutschen nutzen wir den Begriff der Tötung – der Zusammenhang zu „Femizid“ ist sprachlich dadurch unklar. 

Welches Phänomen wird damit beschrieben?

In den 70er-Jahren gab es einen Satz, der das zusammenfassen sollte: Der Mord an Frauen, weil sie Frauen sind. Doch diese Definition wird mittlerweile von den meisten feministischen Gruppen so nicht mehr verwendet. In der #keinemehr-Gruppe haben wir viel diskutiert, auch transnational mit Leuten aus Italien und aus Argentinien, wie wir das Phänomen eigentlich fassen.

Wir haben herausgearbeitet, dass es sich bei Femiziden um Tötungen handelt aufgrund des von außen zugewiesenem Geschlecht, das eine Person in den Augen des Täters nicht einhält. Oder anders gesagt: Jede Tötung von Frauen, die nicht dem Bild entsprechen, das ein Täter von Frauen hat. Das können cis Frauen sein, trans Frauen, Schwarze Frauen, Frauen mit Migrationshintergrund. Alles was in den Augen des Täters diese rigide Zweigeschlechtlichkeit infrage stellt wird geahndet durch die Tötung. Und das ist auch das Politische daran.

Das Buch haben Sie „Feminizide“ genannt – worin liegt er Unterschied zu „Femizid”?

„Feminizid“ ist eine Erweiterung, die in den 90er-Jahren in Mexiko stattgefunden hat. Die Morde in Juárez, wo viele tote Frauen in der Wüste gefunden wurden, teilweise öffentlich exponiert, waren der Grund, warum Theoretiker*innen die Dringlichkeit gesehen haben, den Begriff des Femizids zu erweitern. Durch „Feminizid“ sollte eine kleine Verschiebung deutlich gemacht werden, um die Beteiligung des Staates an den Morden zu unterstreichen. Mittlerweile werden die beiden Begriffe, die zeitweise hart umkämpft waren, vor allem im deutschsprachigen Raum abwechselnd verwendet. Wenn wir von Femizid oder Feminizid sprechen, meinen wir in beiden Formen die gesellschaftliche und staatliche Mitverantwortlichkeit.

Den Begriff „Frauentötung“ oder „Frauenmord“ hört man in öffentlichen Debatten und in der Berichterstattung wesentlich häufiger. Warum ist das problemtisch? 

Was Diane Russel und ihre Mitstreiter*innen durch den Begriff „Femizide“ geschafft haben ist, die geschlechtsbasierten Tötungen zu einem Politikum zu erheben. Daher passt es nicht, wenn wir im Deutschen von Frauentötungen sprechen: Nicht jede Tötung einer Frau ist ein Feminizid. Nicht alles, was wir als Frauentötungen bezeichnen, schafft es, die Tötungen zu benennen, die im Feminizid auch eine Rolle spielen.

Der Begriff des Feminizids ist ein sehr politischer, er hat eine historische Tiefe und eine transnationale Verbindungskraft, die der Begriff des Frauenmordes so nicht hat.

Ich verstehe, wenn Leute umgangssprachlich den Begriff des Frauenmords schneller parat haben, aber auf politischer und journalistischer Ebene gibt es keinen Grund für eine Verwechslung. Es steckt sehr viel Arbeit dahinter, den Begriff in Deutschland zu verbreiten. Die wird entweder nicht implementiert oder sogar aktiv ignoriert. Denn es existieren so viele Informationen auf Deutsch – es fällt schwer, da von Zufällen zu sprechen.

Teil dieser Arbeit, Bewusstsein für das Konzept des Feminizids im deutschsprachigen Raum zu schaffen, ist auch Ihr neues Buch. Sie haben dafür erstmals zentrale Texte aus dem laterinamerikanischen Kontext übersetzen lassen. Wie ist die Idee dazu entstanden?

Merle Dyroff, eine der Mitherausgebenden, arbeitet schon sehr lange wissenschaftlich zu dem Thema. Ihr ist aufgefallen, dass viele Texte noch nicht übersetzt wurden und es wahnsinnig schwer ist, an die Literatur zu kommen, wenn man kein Spanisch spricht. Diese Lücke wollten wir füllen: Die Debatten begannen in Lateinamerika viel früher und es wurde seit den 90ern sehr kostbares Wissen erarbeitet – nicht nur für den lateinamerikanischen Kontext. Das Besondere an den Texten ist, dass sie in der Auseinandersetzung von Akademiker*innen gemeinsam mit Aktivist*innen entstanden sind, gemeinsam mit betroffenen Müttern, die jahrelang in der Verzweiflung miteinander einen ähnlichen Kampf geführt haben. Dadurch ist das Wissen in den Texten sehr informiert. Wissen, das wir hier so gar nicht zur Verfügung haben.

Im Vorwort des Buchs schreiben Sie und Ihre Mitherausgebenden: „Die Debatten in Deutschland müssen […] nicht bei null anfangen, sondern sollten vielmehr an bestehende Erkenntnisse anknüpfen und sich inspirieren lassen.”

Es ist nicht so, dass im deutschsprachigen Kontext nichts zu dem Thema gemacht worden wäre – sicher nicht in der Tiefe und Breite, weil wir auch nicht diese breite feministische Bewegung haben wie in Lateinamerika, die in den letzten 20 Jahren entstanden ist.

Als wir an dem Vorwort zum Buch saßen und eine Kontextualisierung für Deutschland brauchten, sind wir ins Archiv gegangen und dachten naja: Die kurdische Frauenbewegung spricht auch schon seit den 2010er-Jahren über Feminizide. Es ist nicht so, dass wir einen starken Bezug dazu hatten. Erst durch das Zustandekommen des Buchs ist auch uns noch mal ins Bewusstsein gekommen, wie viel da eigentlich parallel läuft und wir selbst gar nicht mitschneiden, obwohl es sozusagen in derselben Straße passiert. Das sind Fragen, die auch wir uns stellen: Wie funktionieren hier eigentlich die Kommunikationsströme und wo gibt es noch Hürden abzubauen?

Wenn wir in unserem Gespräch von Frauen sprechen, meinen wir stets alle Frauen, auch trans Frauen. Wurden sie von Anfang an bei den Feminizid-Auseinandersetzungen mitdiskutiert?

Das war unsere ganz große Frage, als wir angefangen haben, zu recherchieren: Waren eigentlich Transfeminizide von Anfang an mitgedacht? Nach unserem Kenntnisstand lässt nichts darauf schließen. Im Gegenteil: Die Debatte führten vor allem cis Frauen, die zwar Klassenhintergründe und durchaus auch Fragen der Migration oder des Aufenthaltsstatus thematisierten. Aber die Tatsache, dass trans Frauen anders von Gewalt betroffen sind oder von Sexismus, wurde soweit wir wissen, nicht besprochen. Vermutlich auch, weil die Räume gegenüber trans Frauen sehr gewaltvoll gestaltet waren. Dort erfuhren sie eher noch mehr Gewalt statt Anerkennung. Das hat sich lange so gehalten, zum Teil bis heute. In Mexiko und Argentinien hat eine Auseinandersetzung unseres Wissens nach stärker und breiter in den 2010er Jahren begonnen. In Argentinien gibt es einen Begriff für trans Frauen: „travestis“. Der Begriff ist in Deutschland nicht so geläufig und wir fanden es schwierig, ihn zu übersetzen. Die Auseinandersetzung, inwieweit „travesticidios“ Teil der Feminzide sind, war möglich, weil es vorher schon eine lange Debatte über Feminizide gab: Das ist Teil der Ausdifferenzierung der Gewaltformen darin. 

Warum ist deswegen auch der Begriff der Transfeminizide hilfreich?

Für die deutsche Debatte ist es sehr wichtig, sich dafür einzusetzen, dass trans Frauen Frauen sind, dass Transfeminizide aber nicht immer aus den gleichen Gründen passieren wie Feminizide, beziehungsweise dass andere Spezifika dazukommen, die cis Frauen so nicht erleben. Es ist wichtig, dass wir in Debatten diese Unterschiede in der Betroffenheit beachten und uns gegenseitig zuhören und ernst nehmen.

In einem der Beiträge in Ihrem Buch heißt es auch, dass trans Frauen darüber hinaus in Strafverfahren benachteiligt werden, weil ihnen weniger geglaubt wird.

Dazu können wir im deutschen Kontext so nicht wirklich was sagen. Uns fehlen die Informationen. Wir wissen nicht, wie mit den Informationen von Ausweisen z.B. umgegangen wird. Welcher Name und welches Geschlecht sind da festgehalten? Wir sehen an den Statistiken zu Häuslicher Gewalt, die das BKA kürzlich veröffentlicht hat, dass darin trans Frauen noch komplett unsichtbar sind. Es werden nur Partnerschaftsgewalttaten festgehalten. Weitere Kategorien werden kaum berücksichtigt.

Wie steht das im Zusammenhang mit der generellen Entwicklung zur Thematik in Deutschland? Seit 2011 werden Feminizide in Partnerschaften erfasst, auch wenn sie nicht als solche bezeichnet werden. Doch es werden noch sehr wenig andere Daten erhoben, zum Beispiel eben die Betroffenheit von trans Frauen.

Als wir 2017 diese erste Konferenz zu Feminiziden in Deutschland veranstaltet haben, erzählten zwei Kolleg*innen von den Autonomen Frauenhäusern, dass schon seit den 1970ern eine Statistik zu – damals noch – „Frauenmorden” eingefordert wird. Ich war baff. Und das ist, was dabei rausgekommen ist?

40 Jahre später. 40 Jahre Druck. Führen zu einer Statistik, die zwar zeigt, wie stark Partnerschaft in Deutschland von Gewalt geprägt ist. Aber die Gewalt, die in einem binären Geschlechtersystem verankert ist, wird weder erfasst, noch wirklich erforschbar oder abbaubar gemacht, noch anerkannt.

Dabei haben wir so viele Vorbilder, zum Beispiel im mexikanischen oder spanischen Raum, wie Statistiken erhoben werden können, um Feminizide tatsächlich besser zu begreifen. Wir machen das ja nicht, um irgendwelche Zahlen zu erhalten. Statistiken sind Analyseeinstrumente, um zu verstehen, wo Gewalt stattfindet, was hochsensible Situationen sind, wie Prävention funktionieren kann. Auch in Deutschland gibt es genügend Leute und Gruppen, die das einfordern. Ich glaube nicht, dass diese Leerstelle etwas Zufälliges ist, sondern eine sehr aktive Abwehr.

Zu den Kategorien, die bereits jetzt im Lagebild zur Häuslichen Gewalt erfasst werden, findet weder eine Kontextualisierung noch Interpretation statt: Alter, Staatsangehörigkeit, Drogen- und Alkoholeinfluss. Immerhin hat das BKA kürzlich als Konsequenz aus der Ratifizierung der Istanbul-Konvention die Studie „LeSuBiA – Lebenssituation, Sicherheit und Belastung im Alltag“ gestartet. Das ist eine sogenannte Opferbefragung, um das Dunkelfeld zu geschlechtsbasierter Gewalt zu erhellen. Dort sollen auch soziostrukturelle Merkmale erfasst werden. Erhoffen Sie sich von der Studie eine bessere Datenlage und als Folge bessere Präventionsmaßnahmen?

Prävention ist eine Frage des politischen Willens. Studien können positiv oder negativ instrumentalisiert werden, je nachdem, welcher Wille eine Macht hat, gesellschaftlich etwas zu verändern. Die beste Auswertung hilft uns nicht, wenn die Leute, die Entscheidungen treffen können, sie nicht zu diesen Gunsten treffen. Es ist natürlich gut, ein Druckmittel und Argumente in der Hand zu haben. Aber viel wissen wir auch schon – wir müssen auf keine Auswertung warten, um geschlechtsbasierter Gewalt in Deutschland schon jetzt besser vorzubeugen.

Lisa Paus, Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, hat im Juli angekündigt, das Netz an Frauenhäusern und Frauenberatungszentren stärker auszubauen. Welche anderen Maßnahmen würden bei der Vorbeugung von Gewalt helfen?

Es ist sicherlich nicht falsch, Gelder für Frauenhäuser zur Verfügung zu stellen. Um einen nachhaltigen Abbau von Gewalt zu ermöglichen, ist es in meinen Augen wichtig, die Haltung gesamtgesellschaftlich zu fördern, dass Selbstbestimmung über das eigene Leben, den eigenen Körper ein Recht von allen und nicht ein Privileg von wenigen ist. Dafür können folgende Schritte gemacht werden, die nicht mal teuer sind: Der Schwangerschaftsabbruch-Paragraf muss aus dem Strafgesetzbuch raus und als Frage der Gesundheit geregelt werden. Auch Transitionsangelegenheiten sollten eine Frage der Gesundheit sein, und nicht eine der Psychosomatik. Ich wünsche mir, dass wir Migration so handhaben, als würden wir verstehen, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die zum Teil unter großem Druck hierherkommen. Frauen sollten ihren Aufenthaltsstatus selbstständig – unabhängig von ihren Ehemännern – regeln können und die Unterbringung in Lagern sollte gar keine Option sein und die Anerkennung von ausländischen Bildungsabschlüssen eine Selbstverständlichkeit.

Außerdem muss Sex-Arbeit entkriminalisiert und entstigmatisiert werden. Und auch finanzierbarer Wohnraum ist essenziell für Personen, die von geschlechtsbasierter Gewalt betroffen sind und eine gewisse Autonomie zurückzuerlangen möchten. Es muss Ausweichräume geben, Möglichkeiten, nicht mit dem Täter zusammen zu sein.

All das dreht sich um die Frage: Wie wollen wir sozial miteinander sein? Ich bin überzeugt, dass wenn wir diese Dinge umsetzen würden, das recht schnell nachhaltig positive Effekte für die Gesellschaft hätte.


Das Interview führte Vivian Sper.

 

Das Buch:

 

Merle Dyroff, Sabine Maier, Marlene Pardeller, Alex Wischnewski (Hrsg.)
Feminizide. Grundlagentexte und Analysen aus Lateinamerika

ISBN: 978-3-8474-2636-3

Foto: Rocio Mata

Marlene Pardeller ist freie Filmschaffende und Schreibberatende.
Mitübersetzerin von Abbiamo un Piano, feministisches Manifest der Non und
di Meno-Bewegung in Italien und Mit-autorin der Broschüre „#keinemehr.
Femizide in Deutschland“. Aktuell ar-beitet sie gemeinsam mit der Künstlerin
Dominique Hurth Gewalt der wirt-schaftlichen Kontinuitäten des
Nationalsozialismus in Form von Erbschaften auf. Im Dezember wird es im
Museum des Kapitalismus in Berlin dazu eine Videoinstallation geben.