Ein Interview mit Katrin Niedenthal und Melanie Groß über Lücken in der Gesetzgebung – und in der pädagogischen Praxis.
04.10.2023 | Lesezeit: 7 Min.
Katrin Niedenthal, in Ihrem Buchbeitrag zu „Geschlecht:divers“ schreiben Sie, dass die mediale Sichtbarkeit von inter*Personen bzw. Themen und Forderungen von inter*Personen in Folge der Entscheidung im sogenannten Dritte–Option–Verfahren Jahr 2017 und durch die Novellierung des Personenstandsgesetzes noch nie so stark war.
Wie schätzen Sie die Sichtbarkeit mittlerweile ein?
Katrin Niedenthal: Die Sichtbarkeit und das Verständnis von Geschlechtervielfalt – also das Bewusstsein, dass es nicht nur zwei binäre Geschlechter gibt – hat sich in den letzten Jahren insgesamt in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft stark erweitert. Insofern wird inter* in der Regel mitbenannt, wenn es um die Anerkennung von Geschlechtern geht und von trans*,inter* und nicht-binären Geschlechtern oder lsbtiq+ (usw.) die Rede ist. Und auch das `m/w/d´ – zum Beispiel bei Stellenausschreibungen – ist überall sichtbar.
Die Benennung von konkreten Belangen von inter* Menschen ist darüber hinaus meiner Wahrnehmung nach allerdings hinter der allgemeinen Berichterstattung zu lgbtiq+ – Forderungen, Themen oder auch die Diskriminierung von lgbtiq+ -Personen etwas in den Hintergrund geraten.
Sie haben Anfang 2021, als Ihr Buch veröffentlicht wurde, geschrieben, dass Sie auf ein baldiges Verbot von medizinisch nicht erforderlichen geschlechtszuweisenden Eingriffen hoffen – wenige Monate nach der Veröffentlichung war das entsprechende Gesetz erlassen. Warum kritisieren Verbände/Interessenvertretungen intergeschlechtlicher Menschen dieses „Gesetz zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung?“
Katrin Niedenthal: Der Schutzbereich des Verbotes ist eingeschränkt. Das Gesetz greift nur bei Diagnosen aus dem Bereich der „Varianten der Geschlechtsentwicklung“.
Dieser Begriff „Variante der Geschlechtsentwicklung“ ist aber nicht klar definiert. Wenn zudem bspw. nur eine isolierte „Fehlbildung“ diagnostiziert wird (ohne zu prüfen ob dies evtl. eine `Variante der Geschlechtsentwicklung´ darstellt) kann trotzdem operiert werden.
In dem Gesetz ist außerdem nicht geregelt, dass entsprechende OPs auch dann verboten sind, wenn sie im Ausland durchgeführt werden. So kann das Verbot umgangen werden. Das im Gesetzgebungsverfahren außerdem geforderte bundesweite Zentralregister zur Aufbewahrung der Patient*innenakten wurde ebenfalls nicht eingeführt.
Außerdem wird kritisiert, dass es keine externe Prüfung der Einwilligungsfähigkeit der Kinder gibt. Denn in dem Gesetz werden ausdrücklich „nicht einwilligungsfähige“ Kinder vor irreversiblen Behandlungen geschützt. Eine starre Altersgrenze enthält das Gesetz nicht und auch keine Regelung dazu, wer die Einwilligungsfähigkeit prüfen soll.
Im Gesetzgebungsverfahren wurde daher (erfolglos) gefordert, dass es eine externe (außerhalb der Familie und behandelnden Ärzt*innen) Prüfung der Einwilligungsfähigkeit und vor der Entscheidung eine verpflichtende (Peer-)Beratung für die Kinder/Jugendlichen geben soll.
Es wird erwartet, dass das Selbstbestimmungsgesetz im Herbst 2023 beschlossen wird. Was sind Vor- und Nachteile gegenüber dem Personenstandsgesetz § 45 b?:
Katrin Niedenthal: Ein Vorteil des geplanten neuen Verfahrens zur Änderung des Vornamens und des Geschlechtseintrages bei dem Standesamt – wie es in dem Entwurf des SBGG vorgesehen ist – ist, dass das Verfahren künftig alleine auf die Selbstauskunft der antragstellenden Personen basiert und nicht von medizinischen Bewertungen oder Attesten abhängig ist. Außerdem verzichtet das SBGG auf Begriffe wie „Variante der Geschlechtsentwicklung“ oder „Transgeschlechtlichkeit“, ist damit geschlechtsneutral formuliert.
Die antragstellenden Personen sind mit dem einheitlichen Verfahren für alle Menschen dann nicht mehr dem praktischen Problem ausgesetzt, dass die Anträge von Standesamt zu Standesamt unterschiedlich behandelt wurden.
So gab es Standesämter, die bei Anträgen nach § 45 b Personenstandsgesetz grundsätzlich Zweifel daran hatten, ob tatsächlich eine `Variante der Geschlechtsentwicklung´ vorliegt oder die Person nicht etwa transgeschlechtlich sein könnte. Dies führte in der Praxis dazu, dass antragstellende Personen – je nach der jeweiligen Standesbeamt*in und obwohl es von der Gesetzgebung anders vorgesehen war – trotzdem umfassende medizinische Unterlagen vorlegen mussten, um ihren Anspruch auf Zugang zu dem Verfahren nach § 45 b PStG (im Gegensatz zu dem Verfahren nach dem sogenannten Transsexuellengesetz), zu beweisen.
Ein Nachteil des geplanten Selbstbestimmungsgesetzes speziell für inter* Personen ist, dass dort eine 3-monatige Wartefrist bis zur Wirksamkeit der Änderung vorgesehen ist. Das bedeutet eine eindeutige Verschlechterung im Gegensatz zur vorherigen Regelung, bei der die Änderung sofort wirksam war. Das ist eine mir nicht nachvollziehbare Bevormundung gegenüber Menschen, die für sich entschieden haben, dass sie diese Änderung beantragen wollen und keine zusätzliche Wirksamkeitsfrist benötigecie übrigen äußerst problematischen Regelungen in dem Entwurf des SBGG, wie die Regelung zu dem Zugang von Minderjährigen, zur Eltern-Kind Zuordnung und einiges andere, sind schlecht, aber nicht spezifisch schlechter im Verhältnis zum § 45b PStG. Die Aufzählung der änderungsbedürftigen Punkte in dem Gesetzesentwurf würde dieses Format hier sprengen.
Melanie Groß, in Ihrem Buch heißt es, die Erkenntnisse der Geschlechterforschung sind noch nicht (ausreichend) in die Praxis der Sozialen Arbeit überführt worden. Auf welchen Ebenen hat sich seit Erscheinen des Buchs etwas getan – wo nicht?
Wenn wir die aktuelle Debatte um das KJSG anschauen, müssen wir feststellen, dass mit dem § 9 zwar geschlechtliche Vielfalt neben weiteren Differenzierungen als grundlegend zu berücksichtigende Dimension in allen Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe berücksichtigt werden muss, zugleich müssen wir aber feststellen, dass sich diesbezüglich in den Einrichtungen wenig bewegt und andere Aspekte der Gesetzesnovelle im Kinder- und Jugendrecht, wie Inklusion, Kinderschutz und Partizipation deutlich mehr Aufmerksamkeit und Handlungsdruck erzeugen.
Die Soziale Arbeit sieht sich den Menschenrechten verpflichtet und hat den Auftrag, die Handlungsfähigkeit (junger) Menschen zu unterstützen: Können Sie erläutern, inwiefern Soziale Arbeit in Bezug auf Geschlecht „Normierungsarbeit“ ist?
Melanie Groß: Soziale Arbeit beteiligt sich immer dann an Normierungsarbeit, wenn sie unhinterfragt und nicht-reflexiv dominante kulturelle Muster reproduziert und damit den Adressat*innen genau diese Muster als normal und natürlich und somit auch als „richtig“ vermittelt. Wenn beispielsweise in der Kita Kinder wie selbstverständlich in Gruppen von „Mädchen“ und „Jungs“ eingeteilt werden, wird die Kategorie Geschlecht aufgerufen und eine Ähnlichkeit zwischen den so Angerufenen unterstellt.
Das kann gruppendynamische Distinktionen zwischen den Gruppen erzeugen, die sich in stereotypen doing gender-Prozessen manifestieren. Zugleich wird mit solchen Anrufungen die Möglichkeit versäumt, andere geschlechtliche Identitäten und Körper sichtbar und auch verhandelbar zu machen, weil sie schlicht nicht benannt werden.
In Ihrem Beitrag mit Andreas Hechler zeigen Sie Handlungsempfehlungen für pädagogische Fachkräfte auf, auch Andrea Nachtigall und Dan Christian Ghattas entwickeln in ihrem Beitrag eine Liste für Schulsozialarbeiter*innen, die sich um die Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt bemühen und die für die Interessen intergeschlechtlicher Kinder einstehen wollen.
Können Sie skizzieren, welche Punkte für Sozialarbeiter*innen in den meisten Handlungsfeldern der pädagogischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen umsetzbar bzw. empfehlenswert sind?
Melanie Groß: Ganz grundsätzlich geht es in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aus pädagogischer Perspektive immer darum, Integration und Teilhabe zu ermöglichen, Handlungsfähigkeit zu erweitern und emanzipatorische Prozesse zu unterstützen. Diese Grundperspektive ist nur dann umsetzbar, wenn ich mich als Fachkraft selbstreflexiv mit kulturell dominanten Mustern kritisch auseinandergesetzt habe und meinen Adressat*innen in ihrer Vielfalt und Eigensinnigkeit mit Respekt und Anerkennung begegne.
Das gilt auch für das Thema Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt. Es ist hilfreich, wenn ich mich – idealerweise im Team – damit auseinander setze, an welchen Stellen in meiner Einrichtung das pädagogische Arbeiten auf einer Annahme von Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität beruht und mich dann im zweiten Schritt damit auseinandersetze, an welchen Stellen es sinnvoll ist, diese Vorannahme in Frage zu stellen, zu explizieren oder zu ergänzen.
Das Buch:
Melanie Groß / Katrin Niedenthal (Hg.)
Geschlecht: divers. Die »Dritte Option« im Personenstandsgesetz – Perspektiven für die Soziale Arbeit
ISBN: 978-3-8376-5341-0
Melanie Groß ist Pädagogin und Soziologin und arbeitet als Professorin für Jugendarbeit an der Fachhochschule Kiel. Ihre Schwerpunkte liegen in der Jugend- und Geschlechterforschung.
Kontakt: melanie.gross@fh-kiel.de
Katrin Niedenthal arbeitet als Rechtsanwältin und Fachanwältin für Sozialrecht in Bielefeld. Sie war Verfahrensbevollmächtigte in dem sog. Dritte Optionsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, das letztlich 2018 zur Einführung des weiteren Geschlechtseintrages ‚divers‘ geführt hat. Sie hält regelmäßig Vorträge zu verschiedenen rechtlichen Aspekten im Zusammenhang mit Geschlechtervielfalt.
Kontakt: info@kanzlei-niedenthal.de

Die Redaktion von geschlechtersensible-paedagogik.de besteht aus Dr.in Claudia Wallner und Vivian Sper.