“Klarkommen”: Männliche Sozialisation in den 2000ern

Warum es oft heißt, Jungen hätten es früher leichter gehabt, fragt der angehende Sozialarbeiter Yasar Fidan und reflektiert seine Jugend.

27.09.2023 | Lesezeit: 7 Min.

Vor einigen Tagen, als es sehr stark regnete, saß ich mit einem guten Kumpel, der genauso wie ich mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, unter einer Überdachung. Wir redeten über Gott und die Welt und vor allem über den aktuellen Wandel in der Gesellschaft. Während abwechselnd mal wieder die Sonne rauskam und dann wieder vom Regen verdrängt wurde, begaben wir, zwei cis-Männer, uns auf den Weg in ein endlos scheinendes Gespräch. Wir erzählten von unserer Arbeit und verschiedensten Lebenssituationen. Wir beide sind großgeworden in sehr patriarchalen und konservativen Strukturen, zwar jeweils mit einem anderen Hintergrund, aber die Themen und der Leidensdruck sind sehr ähnlich. Wir wurden in vermeintlich einfacheren Zeiten groß.  

Von Yum Yum Instantnudeln und Nachmittagen mit den Jungs 

Ich war ein ganz klassisches Schlüsselkind, nur ohne den Schlüssel um den Hals. Meine Eltern waren den ganzen Tag unterwegs und ich ernährte mich von vorgekochtem Reis und Bohneneintopf oder kaufte mir heimlich eine Packung Yum Yum Instantnudeln, die wegen dem Hühneraroma haram sind. Wir gingen um 8 Uhr in die Schule und waren pünktlich um spätestens 13 Uhr wieder zuhause und hatten keine Nachmittagsbetreuung oder irgendwelche coolen Schulworkshops.  

Ich bin groß geworden Anfang der 2000er und damals war es als Junge klar, dass du in einem Fußballverein bist, in der sonstigen Freizeit auch mit einem Fußball irgendwo rumhängst und dich für die aktuell coolsten Spielzeuge wie Yu-Gi-Oh Karten, Beyblades und Spielekonsolen interessierst. Unsere Sozialisation fand hauptsächlich auf der Straße, dem Spielplatz und dem Fußballfeld statt. Manchmal saßen wir auch bei einem Kumpel im Wohnzimmer rum, der als einziges das Privileg hatte, dass ihm seine Eltern eine Playstation gekauft hatten. Es saßen dann 8-10 Jungs gemeinsam vor einem kleinen Röhrenfernseher und guckten dem einen Kumpel beim Spielen zu. Wenn man Glück hatte, durfte man dann auch mal für ein paar Minuten die Kontroller haben und für paar Runden ein Gegner “verkloppen”. 

Ich hatte keine Eltern oder Pädagogen, die mit mir über meine Gefühle und Bedürfnisse geredet haben. Aus dieser Lage heraus lernte ich mich in die Gruppe einzufügen, die Verhaltensweisen der Gruppe zu adaptieren und blöd gesagt „klarzukommen“. Klarzukommen in der Gesellschaft, mit dem Rollenbild, das ich mir auferlegt habe oder das eher mir auferlegt wurde.  

Unerwünscht: Kindische Rebellenaktionen und Gefühle 

Ich lernte auch klarzukommen mit der Einsamkeit. Ich war nie wirklich alleine, ich musste nur durch die Haustüre durch und konnte dahin wo alle meine Freunde waren, aber wir konnten keine emotionale Stütze für einander sein. Wie denn auch? Hier kommt die Einsamkeit ins Spiel, denn unsere emotionalen Bezugspersonen waren meistens abwesend, unsere Lehrer waren Autorität, die Nachbarn genervt von unseren kindischen Rebellenaktionen, weil wir mit dem Fußball gegen die Hausfassade eines Wohnhauses kickten oder mal etwas aus dem Kiosk mitgehen ließen.  

Generell wurde uns seitens Erwachsener sehr stark das Gefühl vermittelt, dass wir nicht erwünscht sind. Wir wurden öfter von älteren Menschen vom Fenster aus angeschrien und sie drohten damit sich bei der Hausverwaltung zu beschweren und daraufhin wurden zum Beispiel an Grünflächen, auf denen wir gerne Fußball spielten Ballspielverbotsschilder aufgestellt. In diesem Umfeld wurden wir groß. Uns Jungs wurde nicht beigebracht sich auszudrücken, wenn uns mal etwas zu viel ist oder wenn uns etwas belastet. Zumal ich gar nicht glaube, dass unsere Eltern in der Lage dazu gewesen wären, ohne jetzt mit dem Zeigefinger auf irgendwen deuten zu wollen. Sie waren beschäftigt mit ihren eigenen Problemen und geplagt von Existenzängsten und hatten zudem selber auch nie gelernt sich wirklich auszudrücken.  

Früher war es einfacher? 

Die Zeiten waren vermeintlich einfacher, weil wir mehr auf uns allein gestellt waren, aber ist das wirklich die Wahrheit?  

Was wäre aus uns geworden, wenn wir damals coole erwachsene Personen in unserem Umfeld gehabt hätten, die uns und unsere Interessen akzeptieren und uns auf Augenhöhe begegnen? 

Wie viele schwierige Lebenssituationen, Trauerphasen und mentale Zusammenbrüche hätten wir so viel leichter verarbeiten können, wenn wir gelernt hätten unsere Gefühle offen zu zeigen und darüber zu reden?  

Wie viel Liebeskummer wäre uns wohl erspart geblieben, wenn wir gelernt hätten außerhalb der stereotypischen männlichen Verhaltensweisen zu denken und zu handeln?  

Ich glaube wir wären zehn Jahre reifer und emotional nicht ganz so ausgelaugt.  

Als der Regen sich erneut verzogen, und ich fast meine halbe Kindheit verarbeitet hatte, setzte mein Kumpel an und erzählte wieder von seiner Arbeit mit den männlichen Jugendlichen. Er hat eine sehr tolle Lebenseinstellung, einen guten Mindset. Ich bin sehr froh, dass viele Jungs heute Ansprechpersonen wie ihn haben, aber ich war sehr überrascht über das was er als nächstes sagte:  

„Die Jungen, mit denen ich zusammenarbeite haben es heute viel schwerer als wir früher. Sie müssen sich mit Genderthemen auskennen, emotional sein, ihre Bedürfnisse und Gefühle ständig benennen können.“ 

Dieses Wort, „müssen“, verdarb mir sofort die Laune. Ich widersprach ihm. Denn es ist ein allgemeines Narrativ, dass diese ganzen aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen über Gender und Rollenbilder ein Zwang seien und wir uns damit auseinandersetzen müssen

Vom Müssen und Dürfen 

Klar, wir müssen uns mit Themen auseinandersetzen, weil sie dringlich sind:  

Mit Blick auf Statistiken zu Suizid, riskantem Alkohol -und Drogenkonsum, Verkehrsunfällen, Gefängnisinsassen, oder häuslicher Gewalt, sehen wir die Auswirkungen des festgefahrenen männlichen Rollenbildes überdeutlich. 

Aber auch für cis-Männer kann es befreiend sein, zu denken: Wir dürfen über Geschlechterbilder und –erwartungen sprechen. Nach Jahrtausenden des festgefahrenen Patriachats und dessen engen Vorstellungen von Geschlecht, haben wir endlich die Möglichkeit darüber zu reden und diese von Generation zu Generation aufzuarbeiten und aufzubrechen. Wir müssen es als großes Privileg unserer Zeit ansehen, dass wir gesellschaftliche Veränderung gewaltfrei und durch Selbst -und Außenreflektion vorantreiben können. 

Junge Menschen ermutigen statt bemitleiden 

Vor allem Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, haben jetzt die Möglichkeit sie dazu zu ermutigen, offen über ihre Gefühlswelt zu sprechen und sich auszudrücken. Geschlecht zu hinterfragen und das Geschlecht zu leben, das von einer binären Zweigeschlechtlichkeit abweicht. Stereotype Vorstellungen zu Sexualität und Beziehungen abzulegen und so den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern. 

Gerade in diesem Alter können die richtigen Werkzeuge und Ansprechpersonen ihre Chance auf ein ausgelassenes und erfülltes Leben erhöhen. Wir, die heutzutage sozialpädagogisch arbeiten, mussten uns diese Werkzeuge alle nach vielen Jahren der Trauer und Verdrängung selbst aneignen. Es ist unsere Pflicht, jungen Menschen diese Last zu nehmen und sie vernünftig auf das Leben vorzubereiten, ganz ohne voreingenommene Haltungen und verzerrte Rollenbilder.  

In meiner Arbeit mit Jugendlichen versuche ich zum Beispiel diese stets zu ermutigen offenen mit ihren Freunden und Familienangehörigen über ihre Gefühle, Probleme und Belastungen zu reden und sich Hilfe zu suchen, wenn sie einmal nicht mehr weiterwissen.   

Wir als Gesellschaft müssen lernen, miteinander offen zu reden, um Verdrängungseffekte zu vermeiden. Außerdem geht es auch darum unsere Gesellschaft umzuformen und offener, toleranter und reflektierter zu gestalten, was nur passieren kann, wenn Sozialpädagog:innen und Sozialarbeiter:innen mit jungen Menschen in den Austausch gehen und diese dort abholen wo sie gerade stehen. Dabei dürfen diese aber auf keinen Fall vergessen, dass kein Mensch vollkommen ist. Jeder einzelne Mensch hängt in Strukturen und Denkweisen fest, welche uns unser Leben lang vermittelt wurden.  

Es darf nicht sein, dass über die jungen Leute eine Keule geschwungen wird und diese von heute auf morgen sich öffnen und auf einmal komplett selbstreflektiert sein sollen. Wir „erwachsenen“ Menschen müssen genauso unsere Fehler erkennen und uns gemeinsam als Familien, Schulklassen, Jugendgruppen, Freundeskreise und Gesellschaft auf diese Reise machen.  

In Zukunft kann alles einfacher werden

Es ist faszinierend mit der Fantasie zu spielen und sich auszumalen, in welche positive Richtung sich das Zusammenleben und die Atmosphäre zwischen Menschen verändern könnten und damit möchte ich wieder auf meine Frage von oben eingehen: Wo wären wir als Gesellschaft heute, wenn es damals so gelaufen wäre?  

Ich glaube wir wären sehr viel weiter. Ich möchte an dieser Stelle auch keinerlei Mitleid für meine Kindheit und Jugend, aber ich möchte daran appellieren, dass es für die Zukunft besser laufen könnte. Die Auseinandersetzung mit geschlechterspezifischen Rollenbildern offenbart eine bedeutende Möglichkeit, die weit über eine bloße Verpflichtung, über ein Müssen, hinausgeht. Indem wir uns diesem Prozess widmen, können wir erkennen, dass es sich um eine wertvolle Gelegenheit handelt, unsere Wahrnehmungen zu erweitern und ein inklusiveres und gerechteres Gesellschaftsgefüge zu erschaffen. Dass das nicht von heute auf morgen geht, müssen wir akzeptieren. Ich wünsche mir und euch, denen, die politisch tätig sind oder eben täglich mit jungen Menschen in Kontakt, ganz viel Kraft, Geduld und Energie.  

Wir müssen klarkommen, für eine bessere Zukunft.