Vielfalt: In unserer Verschiedenheit gleich

Mehr als ein hippes Label: Wie wir Vielfalt in der Praxis denken und umsetzen können. Ein Beitrag von Svenja Gräfen.

Die Schlagworte Vielfalt oder auch Diversity klingen total gut, darauf können wir uns sicherlich einigen. Wir assoziieren mit ihnen zumeist Positives, beispielsweise Gerechtigkeit, Stärke, Feminismus, Toleranz, Repräsentation, Inklusion — also eine ganze Reihe weiterer Schlagworte — und möglicherweise auch Bilder von lachenden, jungen Menschen unterschiedlichsten Aussehens, die gemeinsam eine gute Zeit haben.

Vielfalt, sogar die schiere Verwendung des Begriffs, ist hip, das lässt sich nicht anders sagen. Ein schickes Label, mit dem sich Veranstaltungen, Unternehmen, Universitäten, Hochschulen und selbst fragwürdige Unterhaltungsshows gern als total zugänglich präsentieren und in ein besseres Licht zu rücken versuchen — selbst bei „Germany’s Next Topmodel“ ist ganz frohlockend die Rede von Diversity. Doch wie es für solche häufig genutzten Labels oder Schlagworte nicht unüblich ist, wird es irgendwann recht schwammig und wir müssen uns nicht nur fragen, was der Begriff denn nun eigentlich bedeutet, sondern auch, ob wir ihn nicht möglicherweise falsch verstehen oder interpretieren. Bei der Vielfalt trifft das meines Erachtens ganz besonders zu — denn wie einen Begriff verständlich definieren, der tatsächlich für vieles steht; wie einen Begriff eingrenzen, wenn ihm das wiederum seine eigentliche Bedeutung raubt?

Vielfaltseuphorie

Zunächst einmal scheint es recht einfach: Vielfalt, das ist das Gegenteil von Einfalt. Bezogen auf Menschen heißt es also — wir sind nicht gleich, sondern verschieden, wir unterscheiden uns allesamt voneinander. Um hier nicht den Überblick zu verlieren und um deutlich zu machen, inwiefern wir uns denn voneinander unterscheiden, ist es sinnvoll, Kategorien zu benennen. Männer, Frauen, nichtbinäre Personen, weiße Personen, BIPoC, Menschen mit und ohne Behinderung, junge und alte Menschen und so weiter. Und eine Kombination von Menschen aus verschiedenen Kategorien ergibt: Vielfalt! Eine bunte Tüte, von allem was dabei.

Die Sozialwissenschaftlerin und feministische Theoretikerin Christina Thürmer-Rohr spricht in einem Artikel[1] von der „Vielfaltseuphorie“, bei der „sich das Problem der Kategorisierung auf einen – vorläufig – freundlich-aufmunternden Umgang mit allen möglichen Varianten menschlicher Erfahrungen, Etikettierungen, Schwächen oder Vorzüge [reduziert], um so etwas wie eine paradiesische Wiese der Artenvielfalt zu imaginieren.“

Dies allein stellt aber weder Machtverhältnisse infrage, noch ist es ein Garant dafür, dass keine Diskriminierung reproduziert oder die Bedürfnisse aller Personen gedeckt werden — denken wir beispielsweise an einen Klassenverband, in dem verschiedenste Schüler*innen gemeinsam lernen. So divers und „bunt“ die Zusammensetzung auch sein mag — damit tatsächlich alle profitieren, reicht ein One Size Fits All-Lehrplan nicht aus, es muss auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Voraussetzungen eingegangen werden. Ich denke an eine Illustration, die den Unterschied zwischen Equality (Gleichberechtigung) und Equity (Gerechtigkeit) darstellt: Drei unterschiedlich große Personen stehen vor einem Zaun, um ein dahinter stattfindendes Baseballspiel zu sehen. Im Falle von Equality stehen sie jeweils auf einer gleich großen Kiste — was zur Folge hat, dass die kleinste Person bloß die Bretter des Zauns sieht statt des Spiels. Im Falle von Equity kommt die größte Person ohne Kiste aus und kann das Spiel anschauen, die mittelgroße Person kommt mit einer Kiste gut zurecht und die kleinste Person hat nun auch endlich freie Sicht — weil sie, entsprechend ihrer Bedürfnisse, auf zwei Kisten stehen kann. Bei unterschiedlichen Ausgangssituationen also bloß theoretisch dieselben Möglichkeiten zu haben (in diesem Fall, das Spiel anzusehen), ist noch lange keine Chancengleichheit.

Es ist nicht damit getan, Kategorien oder Persönlichkeitsmerkmale zu benennen, um auf die große Vielfalt menschlicher Existenz aufmerksam zu machen — oder anders gesagt, Vielfalt meint weit mehr als die bloße Tatsache, dass Menschen unterschiedlich sind. Es geht darum, wie wir mit diesen Unterschiedlichkeiten umgehen, und hier spielen vor allem Wertschätzung, Respekt und Empathie eine große Rolle — und das Aufbrechen von Hierarchien. Niemand ist „besser“ oder „schlechter“ als jemand anderes. Das bedeutet nicht, dass wir alle gleich sind, sondern viel mehr, dass wir in unserer Verschiedenheit gleich sind — wir sind verschieden und genau das haben wir alle gemeinsam.

Gleichheit und Verschiedenheit

Diese beiden Begriffe sind auch für die Erziehungswissenschaftlerin Annedore Prengel essentiell — und sie bedingen einander sogar, bzw. sie sind beide notwendig: „Differenz ohne Gleichheit bedeutet gesellschaftliche Hierarchie, kulturelle Entwertung, ökonomische Ausbeutung. Gleichheit ohne Differenz bedeutet Assimilation, Anpassung, Gleichschaltung, Ausgrenzung von ‚Anderen‘.“[2]

Das sind die Ausgangspunkte ihrer „Pädagogik der Vielfalt“: die Gleichheit und Verschiedenheit der Kinder bzw. Jugendlichen, eine Akzeptanz und Wertschätzung dieser Heterogenität, und daraus resultierend weder Angleichungszwang noch Hierarchiebildung. Die Einzigartigkeit des*der Einzelnen versteht Prengel als eine Bereicherung. Die zentralen Prinzipien der Pädagogik der Vielfalt umfassen u.a. Selbstachtung und Anerkennung, ein Kennenlernen der Anderen, die ‚Nutzung‘ der Verschiedenheiten, Prozesshaftigkeit, Aufmerksamkeit für die individuelle und kollektive Geschichte, Achtung vor der Mitwelt und die Didaktik des offenen Unterrichts[3]. Wenn Verschiedenheiten und Individualität herausgestellt werden, dann nicht, um für Abgrenzung und Distanz zu sorgen, sondern vielmehr, um zusammenzubringen, um voneinander zu lernen, um miteinander stark zu sein.

Vielfalt sind nicht nur „die Anderen“, sondern wir alle

Eine vermeintlich homogene Gruppe wird nicht erst dadurch divers, dass ihr etwas ‚Anderes‘ hinzugefügt wird — nehmen wir eine Lerngruppe, die aus fünf weißen Jungen besteht und zu der ein Schwarzes Mädchen hinzu kommt. Nicht die ‚Andersartigkeit‘ des Schwarzen Mädchens (im Vergleich zu den weißen Jungen) macht die Gruppe divers oder vielfältig, sondern alle Gruppenmitglieder zusammen. Ein Fokus ausschließlich auf das ‚Andere‘, auf Unterschiede und Differenzen ist letztlich sogenanntes Othering — und das birgt nicht nur die Gefahr der Hierarchiebildung, sondern auch die der Distanz, der Abgrenzung, also dem Gegenteil des Kennenlernens und Zusammenarbeitens. Diskriminierung wird so reproduziert.

Eine weitere Problematik besteht im sogenannten Tokenismus — hier sind wir wieder bei den Unternehmen oder Unterhaltungsshows angekommen. Eine Person aus einer marginalisierten Gruppe — eine Frau, queere Person, BIPoC oder ein Mensch mit Behinderung — erhält Zugang zu Räumen, die von anderen Personengruppen dominiert werden — also etwa von Männern, cis/hetero Personen, weißen Personen, able-bodied Personen — um nach außen hin ein gutes, ein vielfältiges, ein „buntes“ Bild abzugeben und sich von der Kritik freizumachen, dass diese Räume eigentlich nicht für alle gleichermaßen zugänglich sind. Frei nach dem Motto: „Na aber wir haben doch eine Frau in der Führungsetage, da soll noch eine*r sagen, dass das nicht möglich ist — die anderen Frauen müssen sich nur anstrengen!“ Dabei liegt die Dominanz von Männern in Führungsetagen keinesfalls daran, dass sich „die anderen Frauen“ nicht ausreichend anstrengen würden — sondern an gesellschaftlichen Hierarchien, Machtverhältnissen und Diskriminierungsmechanismen, die auf diese Weise verschleiert werden. Und was verschleiert wird, lässt sich bloß schwer aufbrechen bzw. abbauen — dabei ist dies eigentlich das Ziel von Vielfalt.

Gleichberechtigung trotz Unterschiedlichkeit

Zusammenfassend lässt sich sagen: Nicht überall, wo Vielfalt draufsteht, ist auch tatsächlich Vielfalt drin — bzw. wird dort nicht zwangsläufig Vielfalt gelebt und damit auch antidiskriminierend und emanzipatorisch gehandelt. Repräsentation allein reicht nicht aus, obgleich auch sie einen wichtigen Faktor auf dem Weg zu mehr Gleichberechtigung darstellt. Von gelebter Vielfalt, von einer wertschätzenden und respektvollen Einstellung gegenüber der Individualität des*der Einzelnen können wir alle nur profitieren. Gelebte Vielfalt birgt das Potential, uns von veralteten und stereotypen Denkweisen und -mustern zu befreien, die unseren Blick und unser Handeln limitieren. Gelebte Vielfalt bedeutet Stärke. Und ist letztlich schlicht und ergreifend eine angemessene Abbildung der Realität. Wir sind alle unterschiedlich, wir sind alle verschieden, wir sind alle individuell — und wir sollten dringend alle gleichberechtigt sein und tatsächliche Gerechtigkeit erfahren. 


1 https://www.gwi-boell.de/de/2014/10/14/genderdiversity-gleich-und-verschieden

2 Prengel, A. (2006): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. 3. Auflage; VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, S. 184

3 Prengel, A. (2006): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. 3. Auflage; VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden, S. 186ff