Vulvina: Ein Buch als safer space – Interview mit Souzan AlSabah

Wir sprachen mit der Autorin und Wortschöpferin über Intersektionalität, Selbstbestimmung und ihr interaktives Buch.

15.11.2023 | Lesezeit: 4 Min.

Souzan, vor mehr als 10 Jahren hast du den Begriff “Vulvina” als umfassende und gewaltfreie Bezeichnung des Genitals unter deinem Pseudonym Ella Berlin in die Öffentlichkeit getragen.
Was bedeutet Vulvina und was macht diese Wortschöpfung besser als alle, die bislang genutzt werden?

Vulvina ist die Kombination aus den Begriffen Vulva und Vagina und bezeichnet so das ganze Genital. Durch die Wortneuschöpfung entfällt zudem die gewaltvolle und funktionale Bedeutung des Wortes Vagina (lat. für Scheide). Das Besondere an dem Wort ist aus meiner Erfahrung in der Arbeit mit mehreren Tausend Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, dass das Wort sowohl ernstzunehmend als auch aussprechbar ist. Es ist ein Wort, welches meiner Erfahrung nach häufig und gern verwendet wird und ein liebevolles und gutes Verhältnis zum eigenen Körper unterstützen kann. Besser als jedes andere Wort, was mir bekannt ist. Gleichzeitig geht es mir überhaupt nicht darum, dass es das einzige Wort ist, was genutzt werden sollte. Mir geht es vielmehr um den deutlichen Hinweis auf die Wichtigkeit von körperlicher Selbstermächtigung. Hierfür steht das Wort.

Was bedeutet Vulvina intersektional?

„Vulvina intersektional“ ist der Titel meines letzten Buches. Es enthält, neben der Aufdeckung des Pseudonyms und der Veröffentlichung der Entstehungsgeschichte des Wortes Vulvina, den Kontext zur Intersektionalitätserfahrung. Denn das Wort wurde vor allem von und für Menschen mit Intersektionalitäts- und Rassismuserfahrung entwickelt. Der Titel steht für eine Würdigung und Sichtbarmachung dieses mehrfachmarginalisierten Personenkreises.

Warum sind Intersektionalitäts-Erfahrungen in diesem Kontext besonders hervorzuheben?

Menschen, mit Intersektionalitäts-Erfahrung sind Menschen, die gesellschaftlich auf mehreren Ebenen, also durch mehrere Strukturen, diskriminiert werden.

Aufgrund dieser Erfahrungen besteht oft die besonders sichtbare Notwendigkeit diskriminierungsfreier Räume und Zeiten, den sogenannten „safer spaces“ oder „safer moments“. Wenn es gelingt, dass der eigene Körper diesen Raum bieten kann, ist das großartig.

Das Bedürfnis nach selbstbestimmter Teilhabe am eigenen Leben ist allen Menschen gleichermaßen gegeben. Je nach gesellschaftlicher Positionierung sind die Zugänge hierzu eher offen oder verschlossen. Menschen, mit Intersektionalitäts-Erfahrungen, entwickeln deswegen oft großartige Überlebensstrategien, die die ganze Gesellschaft nach vorne bringen, und wovon alle profitieren. Das ist aus meiner Sicht dringend hervorzuheben, gerne oft und immer öfter.

Welche Botschaften möchtest du an die Leser*innen senden?

In meiner Arbeit geht es generell darum, Menschen dabei zu unterstützen, in eigener Kraft und Selbstbestimmung zu leben. Auch wenn die äußeren Umstände es uns schwer machen. Alle Menschen können einen Beitrag leisten, um gewaltvolle Strukturen aus der Welt zu schaffen. Das Ziel eines gleichberechtigten Lebens beinhaltet für jede:n Einzelne:n einen individuellen Weg. Dieser Weg steht in engem Zusammenhang zur eigenen gesellschaftlichen Positionierung. Diese Zusammenhänge erläutere ich im Buch, und zeige hierauf basierend verschiedene Handlungsmöglichkeiten. Ziel ist dabei ein konsensuelles, gewaltärmeres Leben.

Warum ist es dir wichtig, Menschen in deinem Buch selbst zu Wort kommen zu lassen ?

Ich bin überzeugt von der Strategie des „Miteinander statt übereinander Sprechens“. Vereinzelung und Personalisierung im Kontext gesellschaftlicher Strukturen haben oft schmerzhafte Auswirkungen.

Es kann wohltuend sein, zu erleben, dass Menschen, die durch ähnliche Strukturen unterdrückt werden, oft ähnliche Überlebensstrategien entwickeln. Das Verständnis für die eigene Situation kann leichter fallen, wenn wir Menschen betrachten, die unter ähnlichen Bedingungen leben.

Außerdem gefallen mir selbst die unterschiedlichen Beispiele und Perspektiven gut. Ich möchte kein Buch mit erhobenem Zeigefinger schreiben und Menschen langweilen. Auch wenn Lange-weile bisweilen sehr gesund ist, möchte ich Menschen abholen und auf unterhaltsame Weise begleiten. Die Beispiele aus dem echten Leben unterstützen das.

Der Empowerment-Anhang enthält nicht nur Übungen, sondern auch viele leere Seiten: Was hat es damit auf sich?

Die leeren Seiten sind für individuelle Gedanken, Gefühle und Erfahrungen. Sie können genutzt werden wie eine Art Tagebuch, oder auch um die Empowerment Übungen direkt auszuprobieren und entstandene Bilder zu verschriftlichen oder zu zeichnen/skizzieren. Natürlich können auch eigene Übung entwickelt und festgehalten werden, innere Dialoge festgehalten oder was auch immer an Inspiration entsteht. Das Buch ist generell ein Mitmach-Buch, so gibt es beispielsweise auch einen Lückentext, wo Artikel und Pronomen für Vulvina eingetragen werden können und ein Vulvina-Bild zum Ausmalen. Die leeren Seiten tragen dazu bei, dass das Buch ein eigener, individueller Raum werden kann, ein safer space, ein Ort nur für die lesende Person.

Souzan AlSabah ist Autorin und leitet die Praxis AlSabah für systemische Therapie. Dort arbeitet sie als machtkritische Therapeutin und Supervisorin mit Einzelpersonen und Organisationen. In den Jahren 2009-2020 war sie für die Konzeption und Leitung NRW- und bundesweiter intersektionaler Empowerment- und Sexualpädagogik- Projekte zuständig. Dabei begegnete sie mehreren Tausend Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.

In diesem Kontext entwickelte Souzan AlSabah Aufklärungs- und Empowerment-Methoden, sowie die umfassende Genitalbezeichnung Vulvina, die sie zunächst unter dem Pseudonym Ella Berlin veröffentlichte. Souzan AlSabah ist Autorin der Kinderbücher „Die Wiese“ und „Samira und die Sache mit den Babies“.