Geschlecht, gender, Geschlechtsidentität: Claudia Wallner widmet sich dem Begriffswirrwarr und plädiert für ein gemeinsames Verständnis.
Identitätsdiskurse haben zurzeit Hochkonjunktur, insbesondere in Bezug auf (rechte) Identitätspolitiken aber eben nicht nur. Auch im Kontext der Benennung von Geschlechtern wird oft von Geschlechtsidentität(en) gesprochen. Betrachtet mensch den Identitätsbegriff wissenschaftlich, historisch und politisch, dann stellt sich die Frage, ob er im Kontext von Geschlecht passend ist oder ersetzt werden sollte.
Was ist mit Identität gemeint?
Grundsätzlich lassen sich in der ideengeschichtlichen Begriffsrekonstruktion grob zwei identitätstheoretische Auffassungen feststellen: Substanz/im Menschen angelegt auf der einen Seite und Wechselwirkung Individuum – Umwelt/Prozess auf der anderen Seite. Das Verständnis einer Substanz, also einer nicht durch Äußeres beeinflussten Identität, die im Individuum angelegt und nicht veränderbar ist, ist dabei das geschichtlich ältere Verständnis von Identität, das u.a. von René Descartes entwickelt wurde und bis Mitte des 20. Jahrhunderts bedeutsam war.
„… daraus leitet sich ab, dass jeder Mensch zeitlebens über einen ihm inhärenten, d.h. innewohnenden Wesenskern verfügt, in dem alle Grundzüge seiner selbst verankert seien. Die äußere Erscheinungsform, das Verhalten, sei demnach immer identisch mit dem inneren Wesenskern des Menschen.“ (https://bit.ly/3oqKeip)
Abgelöst wurde dieses Identitätsverständnis historisch eingeleitet insbesondere durch das von Erik H. und Joan Erikson entwickelte Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung. Demnach ist Identität nicht allein im Individuum angelegt und unveränderbar, sondern entsteht und entwickelt sich permanent im Wechselspiel von Individuum und Umwelt, wobei das Individuum eigene Positionen im Verhältnis zur Umwelt entwickelt, verwirft und neu bildet. Identität in diesem Sinne ist weniger ein individueller Kern als vielmehr ein Diskurs zwischen Mensch und Umwelt, Identität damit vom Außen beeinflusst und wandelbar.
Was ist Geschlechtsidentität?
Beide Identitätskonzepte sind für die Beschreibung von Geschlecht problematisch:
- Im Substanzverständnis von Identität weiß das Individuum um seine Geschlechtlichkeit unabhängig von persönlichen Entwicklungen und Einflüssen von außen. Das ist ein Verständnis eigener Geschlechtlichkeit, das von vielen trans* Personen/Aktivist*innen durchaus getragen wird, weil trans* Personen oftmals abgesprochen wird, dass sie um ihr Geschlecht wissen, genau so wie cis Personen. Die Frage ist nur, ob der Begriff der Identität in diesem Zusammenhang passend ist. Müssten wir dann nicht auch anerkennen, dass es eine angeborene kulturelle, religiöse oder nationale Identität gibt? Davon aber mag außer rechten Politiken niemand ernsthaft ausgehen. Oder ist es möglich zu argumentieren, dass zwar kulturelle oder religiöse Identität gesellschaftlich beeinflusst wird, geschlechtliche aber nicht, weil das Geschlecht im Körper eingeschrieben ist, Kultur, Religion, Nation … aber im Außen angesiedelt sind? Ein Verständnis, das schwer zu vermitteln ist, weil Identität dann einmal fix und ein anderes mal fluid definiert wird.
- In einem wechselseitigen, fluiden Verständnis von Identität zwischen Individuum und Gesellschaft gäbe es kein individuelles Geschlechterwissen, das unabhängig von äußeren Einflüssen und persönlichen Entwicklungen denkbar wäre. Dass bspw. ein Kind mitteilt, dass es nicht im für sich richtigen Geschlecht angesprochen wird/lebt, wäre demnach eingebunden in dessen Lebenserfahrungen, die im Wechselspiel mit dem Selbst erst zu dieser Erkenntnis/diesem Bewusstsein führen. Viele trans* Menschen beschreiben aber, dass sie ein von äußeren Einflüssen wie bspw. Erziehung und Rollenbilder unabhängiges Geschlechterwissen darüber haben, dass das zugewiesene Geschlecht nicht mit dem eignen übereinstimmt. Auch in diesem Verständnis ist der Identitätsbegriff nicht hilfreich, um das eigene Geschlecht zu erfassen.
Wie verstehen aktuelle Veröffentlichungen Geschlechtsidentität?
Ein Blick in aktuelle Beiträge und Veröffentlichungen zeigt, dass Geschlechtsidentität höchst unterschiedlich definiert wird:
So subsumiert Sabine Grimm in einem Beitrag ihres Werkzeugs zu Trans auf dieser Website unter Geschlechtsidentität sämtliche Dimensionen von Geschlecht: psychisches, soziales, biologisches Geschlecht und die sexuell/romantische Orientierung. Demnach gehört zur Geschlechtsidentität auch der Körper, das Begehren und Gender. Geschlechtsidentität ist demnach etwas, was auch von außen beeinflusst wird und im Körper eingeschrieben ist (https://www.geschlechtersensible-paedagogik.de/werkzeuge/trans/transidentitaet-wovon-reden-wir-eigentlich/). Für Grimm ist Geschlechtsidentität ein Synonym für Geschlecht.
Katharina Debus/Vivian Laumann sehen Geschlechtsidentität hingegen als eine von drei Dimensionen von Geschlecht neben Körper und Ausdruck, wobei sich in ihrem Verständnis Geschlechtsidentität aus psychischem Geschlecht, gender und gender identities zusammen setzt. Damit nehmen sie gesellschaftliche Vorstellungen von Geschlecht (gender) mit in die Geschlechtsidentität und begreifen sie als Mischung aus Individuum und Gesellschaft, die zu einem „tief sitzenden Wissen um die eigene innere Wahrheit“ führt (https://interventionen.dissens.de/fileadmin/Interventionen/redakteure/Dissens_-_P%C3%A4dagogikGeschlechtlicheAmour%C3%B6seSexuelleVielfalt.pdf, Seite 16). Das entspricht dem heutigen Verständnis von Identität als Wechselwirkung von Individuum und Gesellschaft.
Queerformat hingegen unterscheidet Geschlecht und sexuelle Identität. Geschlechtsidentität wird als Teil von Gender (soziales Geschlecht) verstanden: sie ist demnach das psychische Geschlecht, das zusammen mit dem sozialen Geschlecht im engeren Sinne (Geschlechterrolle) als Gender bezeichnet wird. Gender wird damit zu einer Oberkategorie und verweist in diesem Sinne darauf, dass psychisches und soziales Geschlecht in Wirkung zueinander stehen, das Außen und das Innen sich also gegenseitig beeinflussen. Unter sexueller Identität verstehen die Autor*innen das „grundlegende Selbstverständnis der Menschen davon, wer sie als geschlechtliche Wesen sind“, wozu das biologische Geschlecht, das psychische Geschlecht, das soziale Geschlecht und die sexuelle Orientierung gehören. Während die Geschlechtsidentität hier als Teil von Gender zugewiesen wird, ist die sexuelle Identität der Oberbegriff, unter dem alle vier Ebenen von Geschlecht subsumiert sind (https://www.queerformat.de/wp-content/uploads/Handreichung-KJH-2012-Druckfassung.pdf), Seite 77-80.
Zusammenfassend wird deutlich, dass innerhalb der fachlichen Diskurse über Geschlechtsidentität keine Übereinstimmung zu finden ist, nicht mal, auf welcher Ebene die Geschlechtsidentität zu Gender, Psyche oder Biologie zu verorten ist und ob sie Teil einer oder aller anderen Kategorien ist oder eigenständig neben diesen steht. Ein insoweit schwammiger Begriff kann kaum hilfreich sein, um das eigene Geschlecht zu erfassen.
Transidentität oder Transgeschlecht?
Der Begriff der Transidentität bezieht sich – wie oben beschrieben – in seiner Entstehung nicht auf wissenschaftliche Identitätsdiskurse und –theorien sondern auf eine Kritik von trans* Menschen am bis dahin üblichen Begriff der Transsexualität, der als zu sehr mit Sexualität verknüpft kritisiert wurde (https://www.transident-bielefeld.de/info-begriffe). Geht es beim trans* Sein doch um das eigene Geschlecht und nicht um Sexualität. So gesehen wurde mit der Umbenennung ein großer Fortschritt erzielt und in dieser Herleitung macht der Begriff Transidentität absolut Sinn. Die Schwierigkeit entsteht dadurch, dass Identität heute als etwas sich in Wechselwirkung der eigenen Person und des Außen Entwickelndes verstanden wird und damit für das Erklären von Geschlecht nicht geeignet ist, wenn wir Geschlecht als etwas in der Person Fixes verstehen, wie trans* Personen dies tun.
Ich glaube deshalb, dass die Begriffe Geschlechtsidentität und Transidentität fehl gehen und stattdessen eine Bezeichnung gefunden werden muss, die das beschreibt, was gemeint ist: eine innere Gewissheit von Menschen über ihr Geschlecht. Insofern würde ich eher von Geschlechterwissen als von Geschlechtsidentität sprechen. Geschlechterwissen verweist darauf, dass nur die Person selbst Auskunft darüber geben kann, welches Geschlecht sie hat, lässt aber auch die Möglichkeit offen, dass dieses Wissen nicht nur in der Person, sondern auch in Wechselwirkung mit dem Außen entsteht. Analog wäre dann von Trans*wissen zu sprechen oder auch von Trans*geschlecht/lichkeit). Trans*geschlecht wäre eine Alternative zu Trans*wissen, die Möglichkeiten offen lässt, unterschiedliche Ebenen und Erklärungen von Geschlecht darunter zu subsumieren.
Auf alle Fälle braucht es in den Geschlechterdiskursen ein gemeinsames Verständnis von Geschlechtsidentität, da, wo der Begriff weiterhin verwandt werden soll und einen Diskurs darüber, ob wir mit Geschlechterwissen und Trans*geschlecht nicht besser beschrieben bekommen, wovon wir sprechen.