Wie kann „Mann“ das Patriarchat überwinden? Ein Interview mit dem Psychologen Markus Theunert

Männer spielen auf dem Weg zur Geschlechtergerechtigkeit eine zentrale Rolle.
Impulse für diese Mammutaufgabe liefert
Markus Theunert in seinem Buch.

Ein Drittel der Männer findet Gewalt gegen Frau akzeptabel” – so oder ähnlich berichteten Medien kürzlich über die Ergebnisse einer Umfrage, deren Aussagekraft mittlerweile angezweifelt wird. 

Dennoch: Was die Aussage und die Bestürzung der Medien zeigt, ist, dass Männer anders noch als vor einigen Jahrzehnten zunehmend im Hinblick auf Ihre Werte, Haltungen und ihren Habitus hinterfragt werden.  

Markus Theunert ist Psychologe und prominenter Vertreter einer gleichstellungsorientierten und progressiven Männerbewegung. In seinem neuen Buch Jungs, wir schaffen das erklärt er, wie Mannsein vor diesem Hintergrund heutzutage gelingen kann. Wir haben mit ihm über Schritte für einen persönlichen Weg der Emanzipation gesprochen.  

Markus, du versprichst mit deinem neuen Buch – vielleicht etwas vollmundig – einen „Kompass für Männer von heute”. Weshalb meinst du zu wissen, welcher Weg für andere Männer der richtige ist? 

Ich verspreche keine Landkarte und ich behaupte auch nicht, den Weg zu kennen. Aber ich biete einen Kompass an. Ein Werkzeug, das eine Richtung vorgibt und laufend genutzt werden kann, wenn man(n) Orientierung braucht. Das ist immer noch ziemlich kühn, zugegeben. Aber wir müssen den Erfahrungsschatz der Männerarbeit auch nicht kleinreden. Auf einer theoretisch-konzeptuellen Ebene fühle ich mich ziemlich trittsicher. Denn das Buch bezieht sich auf den fachlichen Orientierungsrahmen, den ich 2021 mit Matthias Luterbach vom Zentrum Gender Studies der Universität Basel veröffentlicht habe. Bloß geht es jetzt nicht um einen Leitfaden für Fachleute, sondern um eine Orientierung für alle interessierten Männer – und vor allem: alle weißen, heterosexuellen cis Männer – wie gern und fair Mannsein gelingen kann. 

Und wo ist Norden? 

Mein Kompass kennt drei Himmelsrichtungen, also drei grundlegende Kompetenzen, die Männer brauchen, um in einem patriarchalen System Schritte der Emanzipation gehen, sich von verinnerlichten Männlichkeitsnormen distanzieren und zu gerechteren Geschlechterverhältnissen beitragen zu können. Der passende Weg findet sich in der Balance dieser drei Kompetenzen.  

Welche drei Kompetenzen sind das? 

Erstens die Fähigkeit, sich selbst beizustehen. Zweitens die Fertigkeit, sich selbst und anderen Grenzen zu setzen. Drittens die Bereitschaft, Entwicklung zuzulassen. Im Buch erkläre ich nicht nur, weshalb es diese drei Kompetenzen braucht. Ich liefere auch einen Crashkurs in Feminismus und Geschlechtertheorie, damit es für die Lesenden nachvollziehbar wird, weshalb aus meiner Sicht ausgerechnet diesen drei Kompetenzen ein ganz besonderer Stellenwert zukommt. 

Überträgst du damit nicht dem Individuum eine Verantwortung, die eigentlich die Politik tragen sollte? 

Ja, in gewisser Weise stimmt das. Aber was ist die Alternative? Im Buch schreibe ich:

Wir dürfen nicht warten, bis uns jemand die Erlaubnis zur Emanzipation gibt. Denn darauf können wir lange warten. Als privilegiertes Geschlecht wird sich bloß der Druck zur Veränderung erhöhen. Unsere Aufgabe ist es, den Druck in Drang zu verwandeln, um mehr Mann und ganz Mensch zu werden.

Ältere Mitglieder erinnern sich übrigens vielleicht noch: Mehr Mann. Ganz Mensch war der Slogan, den wir in der Gründungsphase von männer.ch 2002-2005 entwickelt hatten. 

Glaubst du, es ist ein guter Zeitpunkt für ein solches Buch? 

Ich bin unsicher. Eigentlich müsste ja ein riesiges Bedürfnis nach lebensdienlichen Leitbildern von Männlichkeit bestehen. Ich mein, jetzt sprechen wir doch schon seit einigen Jahren von toxischer Männlichkeit. Die problematischen Seiten toxischer Männlichkeit sind offenkundig. Auch der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist ja ganz stark ein Krieg gegen Vielfalt, Feminismus und männliche Verletzlichkeit. Trotzdem – oder gerade deswegen – nehme ich eine eigenartige Verhärtung wahr: im öffentlichen Diskurs, aber auch im zwischenmenschlichen Umgang. Der Weltenlauf birgt so viele Ungewissheiten. Es kann gut sein, dass die Situation so unsicher ist, dass viele Männer keine Schritte ins Offene und auch Ungewisse wagen – auch wenn diese wichtig sind. 

Das richtige Buch zur falschen Zeit also? 

Trotz allem: Nein! Gerade in Zeiten der Verunsicherung brauchen Männer den Mut, sich zu verändern. Und zwar in die Richtung, die nachhaltig ist und gut tut – ihnen selbst, den Mitmenschen, der Welt. Ich will dazu motivieren, diesen Mut aufzubringen und denen, die es tun, mein Wissen und meine Erfahrungen anbieten, wie sie ihren Weg finden. 


 

Das Buch:

 

Markus Theunert
Jungs, wir schaffen das
Ein Kompass für Männer von heute
ISBN: 978-3-17-042786-0

© W. Kohlhammer GmbH
Foto: Annick Ramp

Markus Theunert hat Allgemeine Psychologie, Klinische Psychologie und Soziologie studiert. Im Jahr 2000 hat er die Schweizer Männerzeitung (heute: ERNST) gegründet. Von 2005 bis 2015 war er Gründungspräsident von männer.ch, dem Dachverband progressiver Männer-und Väterorganisationen, dessen Gesamtleiter er bis heute ist.