Wie Sie nicht-binäre junge Menschen unterstützen können

Es gibt mehr als zwei Geschlechter – und jetzt? Was Nicht-Binarität bedeutet und wie Pädagog*innen Haltung zeigen.

08.11.2023 | Lesezeit: 7 Min.

Was ist „Nicht-Binarität“? Wie sehen Lebensrealitäten und Bedarfe nicht-binärer junger Menschen aus? Wer einen Überblick sucht, sowie Impulse und Handlungsempfehlungen für die eigene pädagogische Arbeit, wird hier fündig: Denn jede*r Einzelne kann dazu beitragen, ein unterstützendes Umfeld für nicht-binäre Kinder und Jugendliche zu schaffen.

Inhalt

Was bedeutet Nicht-Binarität?

„Nicht-binär“ ist ein Überbegriff und beschreibt Menschen, die sich jenseits, außerhalb oder zwischen den allgemein angenommenen binären Geschlechtern (weiblich und männlich) verorten. Manche nicht-binäre Personen bezeichnen sich selbst auch als trans* und/oder intergeschlechtlich, andere nicht. Manche benutzen weitere Begriffe, z.B. agender, genderfluid, two-spirit, enby, genderqueer oder bigender um ihr Geschlecht genauer zu beschreiben und andere wollen sich überhaupt nicht geschlechtlich ein- oder zuordnen.

Und so, wie sich Selbstbezeichnungen überschneiden, miteinander verweben oder voneinander abgrenzen können, sind auch die Lebensrealitäten, Erfahrungen und Bedarfe von nicht-binären Personen sehr individuell und vielfältig. Festgehalten werden kann jedoch, dass nicht-binäre Menschen mit ihrem geschlechtlichen Selbstverständnis grundlegend aus dem gesellschaftlich nach wie vor etablierten Zwei-Geschlechter-System herausfallen und dadurch in ihrem Alltag auf verschiedensten Ebenen erheblicher Diskriminierung ausgesetzt sind.
Der erste Ansatzpunkt für unterstützendes Handeln liegt also in der eigenen Sensibilisierung und einer kritischen Reflexion von normativer Zweigeschlechtlichkeit, sowie in einem Schaffen von Möglichkeitsräumen außerhalb der Zwei-Geschlechter-Ordnung. 

Sprache verändern

Viele nicht-binäre Kinder und Jugendliche leiden vor allem darunter, dass ihre bloße Existenz durch die alltägliche Reproduktion von Zweigeschlechtlichkeit grundlegend infrage gestellt und ignoriert wird. Eine wichtige Rolle spielt hierbei der Umgang mit Sprache. Überlegen Sie einmal, an welchen Stellen in Ihrer pädagogischen Arbeit Sie sprachlich von Zweigeschlechtlichkeit ausgehen und finden Sie geschlechtsneutrale Alternativen. Für nicht-binäre Kinder oder Jugendliche kann sich ein „Mädels und Jungs, der Bus kommt“ bestenfalls überflüssig, aber auch sehr schmerzhaft anfühlen, denn es sind die vielen kleinen Ansprachen, die ihnen täglich unterschwellig signalisieren: „Wir sehen dich nicht!“ oder „So wie du bist, bist du nicht ok“. Sprachliche Gewohnheiten zu ändern braucht vielleicht etwas Zeit, lässt sich aber ganz hervorragend im Alltag üben. Dies gilt auch für den Umgang mit Ansprachen und Pronomen.

Üben Sie einmal, ohne Pronomen über eine Person zu sprechen und wiederholen sie stattdessen den Namen. Informieren Sie sich über Neopronomen (z.B. „dey/deren“ oder hen/hem) und probieren Sie aus, diese zu verwenden. Hinterfragen Sie, wie Sie über Ihnen unbekannte Personen sprechen. Statt „die Frau da drüben“ können Sie sagen „da, die Person mit dem roten Schal“ und kommen damit ohne die Zuordnung eines Geschlechts aus.

Neutrale Bezeichnungen wie diese lassen offen, dass die Person, männlich, weiblich oder auch nicht-binär sein könnte und stellen außerdem klar, dass nur jeder Mensch selbst Auskunft über die für ihn passende Selbstbezeichnung geben kann und dies nicht von außen erkennbar ist. Auch das Gender-Sternchen zu nutzen und von „Schüler*innen“ zu sprechen, statt von „Schülerinnen und Schülern“ zeigt nicht-binären jungen Menschen: „Wir sehen, dass es dich gibt!“ und ist damit ein wichtiges Signal der Akzeptanz.

Hürden abbauen und Räume öffnen

Zweigeschlechtlichkeit wird im alltäglichen Handeln und in den Strukturen von Institutionen auf viele Arten reproduziert und kann grundlegende Hürden schaffen, die junge Menschen davon abhalten können, Einrichtungen zu besuchen. Wenn es in einer Schule neben der Mädchen- oder Jungentoilette keine geschlechtsneutrale Alternative gibt, kommt es vor, dass junge Menschen der Schule fernbleiben oder an einem langen Schultag nichts trinken, um nicht auf die Toilette zu müssen, wenn sie sich dort nicht wohl und sicher fühlen können. Hier wird Teilhabe massiv verhindert und viele Einrichtungen haben inzwischen All-Gender-Toiletten (Toiletten für alle Geschlechter) eingerichtet, um an dieser Stelle Diskriminierung abzubauen.

Hinterfragen Sie generell, ob und warum das Einordnen, Abfragen und Einteilen in Geschlechter im pädagogischen Alltag überhaupt nötig ist und lassen sie es im Zweifel bleiben. Lässt sich eine Abfrage von Geschlecht, z.B. in einem Anmeldeformular, nicht vermeiden, stellen Sie sicher, dass es neben „weiblich“ und „männlich“ weitere Optionen und idealerweise ein Freifeld für die passende Selbstbezeichnung gibt. Fragen Sie sich auch, wofür genau Sie diese Angabe überhaupt erheben und machen Sie transparent, wie sie weiterverwendet wird.

Gibt es in Ihrer Einrichtung geschlechtergetrennte Angebote? Reflektieren Sie kritisch warum und wie Sie diese konzipieren, wie Sie die Zielgruppe definieren und welche Annahmen über Geschlecht und geschlechtsspezifische Erfahrungen in der Zielgruppendefinition stecken. Haben trans*, inter und nicht-binäre Teilnehmer*innen hier selbstverständlich Platz und haben sie auch die Möglichkeit, sich in den Inhalten des Angebots wiederzufinden? Trifft dies auch auf mehrfachmarginalisierte Teilnehmer*innen zu, die in ihrem Alltag z.B. zusätzlich Rassismus erfahren oder be_hindert werden? Es lohnt sich, solche grundlegenden Fragen auch aus intersektionaler Perspektive zu stellen und die eigenen pädagogischen Konzepte entsprechend anzupassen, um Diskriminierung und Ausschlüsse zu verhindern.

Vorbild und Ansprechperson sein

Wenn Sie die Existenz von nicht-binären Personen benennen, ihre Bedarfe im pädagogischen Alltag mitdenken und Unterstützungsbereitschaft signalisieren, machen Sie sich als Ansprechperson sichtbar und ermöglichen dadurch, dass sich nicht-binäre junge Menschen ihrem Umfeld anvertrauen und ihre Identität auch nach außen zeigen können. Sie können dabei helfen, die allgemeine Akzeptanz innerhalb der eigenen Einrichtung zu fördern, indem Sie eine Vorbildfunktion einnehmen.

Machen Sie es vor: Stellen Sie sich selbst mit Ihrem Namen und Ihren Pronomen vor und fragen Sie Personen, die sie neu kennenlernen, welches die richtigen Pronomen sind, um über sie zu sprechen.

Würde dies in ihrem Umfeld Irritationen auslösen? Super, dann haben Sie gleich einen Gesprächsanlass geschaffen, um zu thematisieren, dass es eben nicht nur zwei Geschlechter gibt und Sie einer Person ihr Geschlecht nicht ansehen können. Verinnerlichen Sie, warum Ihnen diese Haltung wichtig ist und Sie werden auch auf eventuelle Ignoranz oder Feindseligkeit mit klaren Argumenten reagieren können.

Wenn Sie von nicht-binären Kindern und Jugendlich wissen, schauen Sie hin, hören Sie zugewandt zu und suchen Sie gemeinsam nach Wegen, um mit Herausforderungen umzugehen. Besprechen Sie mit der Person am besten vorab, welche Reaktion sie sich wünscht, wenn Misgendering passiert. Reagieren Sie konsequent, wenn abwertende oder diskriminierende Äußerungen fallen (nicht nur dann, wenn nicht-binäre Personen anwesend ist) und machen Sie deutlich, dass diese in ihrer Einrichtung keinen Platz haben. Überlegen Sie, welche Unterstützung Sie anbieten können, falls die*der Jugendliche sich z.B. Fragen zu einer rechtlichen oder medizinischen Transition stellt. Dabei müssen Sie nicht alle Antworten selbst kennen, sondern können auf Anlaufstellen wie z.B. Trans*Beratungsstellen verweisen oder sich dort selbst Rat holen.


Schon gewusst?

Seit Juni 2021 formuliert das Kinder- und Jugendhilfegesetz den Auftrag „die unterschiedlichen Lebenslagen von Mädchen, Jungen sowie transidenten, nichtbinären und intergeschlechtlichen jungen Menschen zu berücksichtigen, Benachteiligungen abzubauen und die Gleichberechtigung der Geschlechter zu fördern,“ (§9 Absatz 3 SGB VIII). Wissen und Handlungskompetenz im Hinblick auf die Begleitung von trans*, inter und nicht-binären Kindern und Jugendlichen ist für Träger, Teams und Fachkräfte der Jugendarbeit also kein „nice to have“, sondern ein expliziter gesetzlicher Auftrag!