Wir können viel mehr als ihr denkt

Sich jugendkulturell zeigen mit Geschlechterthemen? Ja, das können und wollen viel mehr Jugendliche, als wir Fachkräfte oft denken.

Welche Kompetenzen Jugendliche mitbringen und welchen Unterstützungsbedarf sie formulieren

Als wir 2013 meinTestgelände konzipierten, konnten wir nicht wissen, welche Beratung und Unterstützung Jugendliche brauchen würden, denn das Konzept der Website war absolut neu: Was wir von den Jugendlichen erfragten, war die Kombination aus webfähigen Produkten und Interesse an Geschlechterthemen. Was sie noch mitbringen mussten war die Kompetenz zum Texten, Singen oder Filmen als kulturelle Ausdrucksformen und jugendlichen Perspektiven. Breit gefächerte Voraussetzungen also und wir wussten nicht, was davon Jugendliche eigenständig bewältigen und worin sie Unterstützung oder Begleitung brauchen. Also beschlossen wir, Kompetenzen für all diese Bereiche vorzuhalten in unserer Onlineredaktion: technisches Know How, Genderkompetenz, Medienkompetenz, Beratung bei Text und Regie sowie zum User*innen-Verhalten. Entsprechend breit aufgestellt besetzten wir unsere Onlineredaktion. 

Darüber hinaus hielten wir von Anfang an technisches Equipment vor, das wir bei Bedarf ausleihen können inklusive Einführung in die Nutzung: Kamera, Tonaufnahmegeräte und Boxen, denn nicht alle Jugendlichen und auch nicht alle Jugendgruppen besitzen Medientechnik, um Videos oder Audios aufzunehmen.

Wie nicht anders zu erwarten, stellten und stellen sich die Bedarfe als höchst unterschiedlich heraus: Jugendliche, die in und als Redaktionsgruppen mitmachen, werden begleitet von  erwachsenen Fachkräften, die jeweils einige der notwendigen Kompetenzen einbringen. Das sind mal Gender-, mal medien- oder filmtechnische und mal jugendkulturelle Kompetenzen. So sind die Unterstützungsbedarfe zumeist nur auf einige Bereiche pro Redaktionsgruppe beschränkt: manchmal braucht es jemand, die_der Videos von bspw. Theaterszenen oder Songs aufnimmt und schneidet, manchmal wird selbst gefilmt und wir übernehmen den Schnitt. Manchmal gibt es Ideen für einen Film und medienpädagogische Kompetenzen ihn umzusetzen, es braucht aber Unterstützung, wie Geschlechterperspektiven eingebaut werden können. Manchmal wollen die Gruppen selbst filmen, brauchen aber eine Kameraeinführung oder eine Kamera. Oberstes Gebot für uns ist: soviel Selbständigkeit wie möglich, soviel Unterstützung wie nötig. Die Gruppen sagen, was sie brauchen und wir versuchen die Unterstützung zur Verfügung zu stellen. In der Praxis der vergangenen Projektjahre waren es insbesondere medienpädagogische und medientechnische Kompetenzen, die in erster Linie abgefragt wurden. Manchmal bekamen wir dann bei den Videos Rohmaterial, das wir geschnitten haben in Absprache mit den jeweiligen Gruppen und so wurden Beiträge produziert.

Bei unseren Autor*innen liegen die Dinge etwas anders: viele Jugendliche und junge Erwachsene sind medienkompetent, manche haben ihren eigenen YouTubekanal oder veröffentlichen ihre Musik schon in einer Soundcloud. Sie haben sich kostenlose Programme herunter geladen und ihren Gebrauch angeeignet und können Filme oder Musik schneiden. Sie wissen, wie mensch auch mit einem Smartphone filmen kann. Viele schreiben auch Texte, für die es keine besonderen technischen Kompetenzen oder Voraussetzungen braucht, lediglich einen Computer und Grundkenntnisse in Schreibprogrammen und eine Mailmöglichkeit, wobei das ja auch über Social Media möglich ist und kein Programm erfordert. Produzieren Jugendliche oder junge Erwachsene Musik oder Videos, dann organisieren sie das in der Regel ohne unsere Unterstützung. Es gibt aber bspw. auch den Fall, dass eine Autorin Slamtexte schrieb, diese aber gerne im Video vortragen wollte und sich dann gemeinsam mit unserem Onlineredakteur auf den Weg machte, das zu erlernen: sie ließ sich beraten bzgl. eines Schnittprogramms, sie erlernte das Programm, schrieb ein Drehbuch und drehte ihre Videos: sie ging diesen weiten Weg der Aneignung und des Lernens, weil sie eine Vision hatte, was sie „der Welt“ mitteilen wollte.

Was die inhaltliche Begleitung und Beratung angeht, so sind die Redaktionen und Autor*innen mehrheitlich auch autonom: entweder sie entwickeln eigenständig Themen und deren Verarbeitung oder sie fragen bei uns an, ob wir gerade Themen haben und überlegen dann, ob sie dazu arbeiten mögen. Letzteres ist aber eher die Ausnahme, weil sich die Produkte der Jugendlichen immer aus den eigenen Lebensthemen heraus entwickeln. Wir bekommen keine Beiträge, die nicht mit eigenen Erfahrungen der Jugendlichen zu tun haben, das macht aus ihre besondere Qualität und ihre Authentizität aus. In jedem Beitrag ist zu lesen oder zu sehen, dass das Thema eng verbunden ist mit dem, was Jugendliche erleben oder was sie beschäftigt. In Ausnahmesituationen bieten wir den Redaktionen und Autor*innen Themen an: In der Coronakrise bspw. haben wir uns aktiv an unsere Redaktionen und Autor*innen gewandt und nachgefragt, ob sie aktuell Beiträge produzieren mögen, weil wir davon ausgegangen sind, dass viele von ihnen zu Hause sind und vielleicht ein Anstoß von außen und eine Aufgabe den Alltag anreichern könnten, was sich auch bewahrheitete: viele Autor*innen und Redaktionen haben Beiträge produziert, viele eben auch zu den Folgen der Coronamaßnahmen.

Viel mehr als anfangs gedacht nutzen junge Menschen aller Geschlechter Schreiben als künstlerisches Ausdrucksmittel. Anfangs haben wir erwartet, dass wir mehr Videos bekommen, weil das ein wesentliches Stilmittel der Präsentation im Netz ist und schreiben eher „old fashioned“ wirkt bei Jugendlichen. Auch das hat sich nicht bewahrheitet. Wir haben deutlich mehr Texte als Videos und Audios auf meinTestgelaende versammelt. Schreiben scheint für viele Jugendliche ein Stilmittel der Exploration zu sein, das verschiedenste Perspektiven der Themenverarbeitung erlaubt.

Eines unserer wichtigsten Resümees zu diesem Themenkomplex ist: Jugendliche haben deutlich mehr Kompetenzen als wir als Fachkräfte oftmals so annehmen und oft auch viele mehr als wir als Fachkräfte selbst. Mit Jugendlichen medienpädagogisch zu arbeiten kann insbesondere gelingen, wenn wir sie als Expert*innen verstehen und ggf. uns selbst als Lernende. Und: schreiben, performen, drehen, rappen oder singen sind kulturelle Stilmittel, die offensichtlich vielen Jugendlichen taugen, sich mit Geschlechterfragen auseinander zu setzen. Nur Mut!

Mit welchen Geschlechterthemen sich Jugendliche beschäftigen lesen Sie hier.