Können Jugendliche miteinander arbeiten und Spaß haben, wenn sie nicht die gleiche Sprache sprechen? Das #gelände 2016 hat gezeigt: unbedingt!
Vom 18.-22. Juli 2016 fand in der esw Berchum zum dritten Mal das #gelände statt: Mit 80 Teilnehmenden war die Veranstaltung etwas kleiner als in den beiden Vorjahren und gleichzeitig groß genug, um vielfältigste Begegnungen zwischen unterschiedlichsten Kindern und Jugendlichen herzustellen und Vielfalt und Respekt in die Praxis umzusetzen.
Vielfalt in Anerkennung ist ein zentrales Qualitätsmerkmal des Projekt meinTestgelände und darin auch des Jugendkulturevents #gelände. Die Redaktionsgruppen und Autor_innen weisen auf allen Ebenen große Unterschiede auf: sozial, kulturell, religiös, ethnisch, regional, bezüglich des familiären Hintergrunds, Gesundheit, Handicaps, des Aussehens … Diese Vielfalt trifft beim #gelände zusammen.
In diesem Jahr kam eine weitere Ebene hinzu: mit zwei Gruppen und einem Autoren, die teilweise unbegleitet, teilweise mit Familien nach Deutschland geflüchtet sind, waren diesmal auch Jugendliche dabei, die zurzeit noch der deutschen Sprache nicht oder kaum mächtig sind. Die kulturellen Workshops und die Gesamtveranstaltung mussten diese Sprachbarriere bewältigen. Letztendlich sorgte die Gesamtatmosphäre der Anerkennung des #gelände für Lösungen: viele Jugendliche sind mehrsprachig und wirkten selbstverständlich als Übersetzer_innen. Die Jugendlichen haben sich untereinander organisiert und sich so gegenseitig unterstützt – eine Intervention durch Workshop-Leiter_innen und Veranstalter_innen war nicht nötig.
Geflüchtete Jugendliche waren dank einer durch das BMFSFJ geförderten Zusatzförderung eine neue Gruppe auf dem #gelände. Eine Gruppe afghanischer Mädchen, eine Gruppe syrischer Jungen und mehrere irakische Jungen nahmen am #gelände teil. Die meisten von ihnen lebten aktuell noch in Erstunterbringungen, einige alleine oder bereits mit Eltern in Wohnungen. Teilweise waren die Jugendlichen Mitglieder von Redaktionsgruppen. Gerade die geflüchteten Jugendlichen zeigten sich zunächst sehr verunsichert und ängstlich ob der Situation. Geholfen hat, dass sie nicht alleine waren: alle hatten eine vertraute Begleitungsperson dabei, die Sicherheit bot; alle haben festgestellt, dass sie nicht die einzigen sind, sondern dass viele Jugendliche mit Fluchtgeschichte dabei waren; festgestellt wurde, dass geflüchtete Jugendliche sowohl in eigenen Gruppen als auch einzeln und als Teil von Redaktionsgruppen anwesend waren. Das hat einer möglichen Spaltung in die und wir entgegen gewirkt; alle konnten an Workshops teilnehmen, in denen sie etwas von sich zeigen konnten, was sie gut können und wofür sie Anerkennung von anderen bekommen haben. Damit schwand das Gefühl der Fremdheit schnell und wurde um das Gefühl dazu zu gehören wie alle anderen auch, ersetzt. Bereits zur Mitte der Woche bewegten sich die eingangs schüchternen Jugendlichen ebenso frei und glücklich in der Gruppe und auf dem Gelände wir alle anderen auch und am Abschlussabend waren es nicht zufällig eben jene Jugendlichen, die beim Abschlusskonzert die Bühne stürmten und vor allen anderen und unter dem Jubel der gesamten Gruppe tanzten und das Leben feierten.
Die Altersspanne war insbesondere durch die geflüchteten Jugendlichen in diesem Jahr besonders groß. Bislang war die Teilnahme ab 16 Jahren zugelassen. Da einige der Geflüchteten aber nur mit ihren jüngeren Geschwistern reisen durften, waren diesmal Teilnehmer_innen ab 10 Jahren dabei. Durch die pädagogische Begleitung der Gruppen und die Atmosphäre der gegenseitigen Anerkennung zeigte sich die große Altersspanne lediglich als sein weiteres Merkmal von Vielfalt und nicht als Problem.
Gelingensfaktoren
Das #gelände hat immer einen sehr speziellen ‚Spirit‘, den insbesondere die Jugendlichen selbst bemerken und schätzen. Viele von ihnen erleben immer wieder Abwertungen, Zuschreibungen, Beschimpfungen, Verweigerung von Anerkennung, Rassismus und Sexismus. Das #gelände ist ein Ort, an dem es solche Erlebnisse nicht gibt und mehr noch: an dem es die Sicherheit gibt, dass ihnen so etwas nicht passieren wird. Das führt dazu, dass Jugendlich sich frei entfalten können und angstfrei in Begegnungen gehen und ihre Fähigkeiten testen und zeigen können. Durch welche Faktoren aber entsteht dieser ‚Spirit‘? Was macht es aus, dass Jugendliche sich selbstverständlich gegenseitig akzeptieren und unterstützen und nicht ‚dissen‘ oder ‚mobben‘ ob der Unterschiede? Warum sind Hautfarbe, Handicaps, Sprache, Religion, Kleidung, Geschlechter und Alter keine Differenzlinien, die Unterschiede aufbauen und Hierarchien herstellen sondern menschliche Merkmale, die für das Miteinander keine Bedeutung bekommen?
Wenn es keine Mehrheitsgruppe gibt, erschwert dies Dominanzkulturen: die Zusammensetzung der jugendlichen Teilnehmer_innen ist so vielfältig, dass es keine Mehrheitsgruppe gibt sondern eine große Vielfalt von Menschen unterschiedlichster Merkmale und ohne Mehrheitsgruppe können sich Dominanzen und Hierarchien nur schwerlich aufbauen. Das scheint ein wesentliches Gelingensmerkmal für die gegenseitige Anerkennung zu sein: „alle sind anders, alle sind gleich“.
Alle Jugendlichen haben ein Sicherheitsbackup durch ihre Begleiter_innen. Niemand (bis auf die Autor_innen, die von uns eine besondere Ansprache bekommen haben) kommt ohne eine erwachsene Vertrauensperson. Gerade in der Vielfalt der Menschen scheint dies eine wichtige Sicherheitsbasis zu sein, von der aus sich Jugendliche frei bewegen können.
Anerkennung durch professionelles Personal ist ein weiterer Faktor des Gelingens. Die Workshop-Leiter_innen sind alle Koryphäen ihrer Fachgebiete und zusätzlich in der Arbeit mit Jugendlichen ausgebildet und erfahren. Dadurch erleben die Jugendlichen, dass sie ernst genommen werden und wichtig sind und können sich in den kulturellen Angeboten, für die sie sich entschieden haben, qualitativ weiter entwickeln.
Das Hauspersonal ist auf die Gruppe eingestellt, erfüllt Wünsche und regelt den Hausalltag im Hintergrund: es gibt keine Ermahnungen, keine Ansagen im Vorfeld über Verbote, keine “das geht auf keinen Fall”-Botschaften. Vielmehr geht die Bildungsstätte mit unserem Konzept mit, dass Respekt durch Respekt entsteht und nicht durch Verbote. Das ist die Botschaft von uns an die Jugendlichen zur Eröffnung der Woche, mehr Ansagen gibt es nicht und der Erfolg gibt uns Recht.
Das Team des Projekts bietet Sicherheit, indem immer Jemand ansprechbar ist, für Probleme schnelle Lösungen gefunden werden, Orientierung geboten wird, Fragen beantwortet, Wünsche erfüllt und Anerkennung gezeigt wird. Die Botschaft “ihr seid hier willkommen und sicher und es gibt kein Problem, für das es nicht eine Lösung gibt” anerkennt die Jugendlichen und gibt ihnen Sicherheit.
Anerkennung in Unterschiedlichkeiten der Jugendlichen untereinander ist ein weiterer Erfolgsfaktor: Gerade durch die Unterschiede, die sich dann in der gemeinsamen Arbeit oft schnell relativieren, weil bspw. Interessen ähnlich sind, machen die Jugendlichen viele Erfahrungen, die Voreinstellungen revidieren und Vielfalt als Qualität fühlen lassen.
Jugendkulturen sind wichtige Ausdrucksmittel auch und gerade von Abwertungserfahrungen, Sehnsüchten, Ängsten, Rassismen und Sexismen. Wer die Sprache nicht spricht, kann sich auch durch Bilder oder den Körper ausdrücken, deshalb ist in der Zusammensetzung der jugendkulturellen Workshops so wichtig, dass es auch diese Möglichkeiten der Expression gibt. Mit jugendkulturellen Mitteln können eigene Erfahrungen abstrahiert und damit sprechbar gemacht werden.
Raum zur Selbstpräsentation braucht es, damit die gemachten Erfahrungen und das Gelernte auch gezeigt werden und damit Erfolgserlebnisse gemacht werden können. Die Präsentation der Workshop-Ergebnisse und das abendliche Abschlusskonzert, auf dem die produzierten Songs öffentlich performt werden können, haben für das Selbstwertgefühl der Jugendlichen eine hohe Bedeutung. Viele der Beiträge stehen im Anschluss auf meinTestgelände online und sind damit einer breiten Öffentlichkeit über die am #gelände Beteiligten hinaus zugänglich. Dies fördert den Stolz zusätzlich und macht es auch Freund_innen und Angehörigen möglich, die Leistungen und den Spaß der Jugendlichen mitzuerleben.
Vertrauen schenken und Interesse haben sind zwei wesentliche Faktoren: viele der Jugendlichen machen in ihrem Leben Erfahrungen, dass sie misstrauisch beäugt werden bspw. ob ihres Aussehens oder ihrer Kleidung und/oder dass sich Niemand für ihre Eigenansichten interessiert, die Gesellschaft aber über sie diskutiert und urteilt (aktuell Muslim_innendebatten, Flüchtlingsdebatten). In den Workshops stehen sie mit ihren Themen dagegen im Mittelpunkt: was sie bewegt, wird zum Thema, wird in Worte, Tanz oder Graffiti umgesetzt und erhält damit Bedeutung. Dieses Gefühl der Bedeutsamkeit ist Teil einer Eigenermächtigung, die Mädchen* und Jungen* empowert.
Für das Team von meinTestgelände: Drin. Claudia Wallner im Juli 2016
Bewegte Bilder vom #gelände 2016 gibt´s auf meinTestgelände: https://www.meintestgelaende.de/2016/10/best-of-gelaende16/