Im sechsten Jahr des #gelände kristallisierte sich immer stärker heraus, was die konzeptionellen Gelingensfaktoren sind, die den speziellen Spirit herstellen.
Das Konzept: work in progress
Der große Erfolg des #gelände auch im sechsten Jahr hat konzeptionelle Gründe, die teils im Vorfeld erarbeitet und teils im Laufe der Jahre weiterentwickelt wurden. Basis ist, dass das Konzept nach jedem #gelände reflektiert und ggf. überarbeitet wird. Nur die wertschätzende Haltung gegenüber allen Beteiligten – Fachkräften genauso wie Jugendlichen bleibt und leitet jedwede konzeptionelle Überlegung. Auf dieser Basis gelten folgende konzeptionellen Bausteine, die den Erfolg des #gelände tragen:
Klare Aufgabenverteilungen und alle Beteiligten sind Spezialist*innen ihres Faches und ihres Auftrags
- jugendkulturelle Workshops werden von pädagogisch und fachlich geschultem Personal angeboten
- alle Teilnehmer*innen haben eine pädagogische erwachsene Begleitung, die über den gesamten Zeitraum für sie da sind und die ihnen bekannt ist
- alle organisatorischen Fragen werden im Vorfeld mit dem Haus abgesprochen und auch unter der Woche durch die Projektmitarbeiter*innen geklärt, ohne das die Jugendlichen davon belastet werden
Wer Jugendlichen Vertrauen entgegen bringt, erntet auch Vertrauen
- Freiwilligkeit ist das oberste Gebot: wer etwas nicht machen will, muss das nicht tun
- gegenseitiger Respekt ist die Basis des Zusammenseins: das gilt gegenüber den Begleiter*innen, den Workshopleiter*innen und auch gegenüber denjenigen, die im Haus für die Gruppe arbeiten, insbesondere das Küchen- und Reinigungspersonal; vermittelt wird dies nicht über Gebote oder Verbote, sondern indem den Jugendlichen zu Beginn vermittelt wird, wer alles wie und wo arbeitet und sich einsetzt, dass viele Menschen vieles tun unter der Woche, damit alle Jugendlichen sorgenfrei arbeiten und Spaß haben können. Vermittelt wird also eine respektvolle Haltung, die sich auf die Jugendlichen überträgt, weil ihnen nicht unterstellt wird, dass man sie zähmen müsste oder dass man sowieso davon ausgeht, dass sie sich nicht benehmen können
Starre Regeln helfen nicht
- Wohlbefinden geht vor Geschlechtertrennung: wer mit wem ein Zimmer teilt, wird im Vorfeld geklärt und ist offen, soweit alle Beteiligten einverstanden sind. Nicht immer ist die geschlechtshomogene Belegung von Zimmern die passende Lösung. Manche Jugendliche brauchen dringender die Sicherheit ihrer Gruppe als einer homogenen Lösung, trans* und inter* Jugendliche bestimmen selbst, in welcher Konstellation sie ein Zimmer teilen wollen.
- Geschlechtertrennung als Voraussetzung zur Teilnahme: manchen Mädchen dürfen nur teilnehmen, wenn gewährleistet ist, dass sie in einem Mädchenzimmer auf einem Mädchenflur untergebracht werden und erwachsene Personen ein Auge auf nächtliche Wanderbewegungen im Haus haben
- Manche Mädchen dürfen über Nacht nicht außer Haus schlafen – die nehmen dann am Tag teil und werden abends abgeholt und morgens wieder gebracht. Zu bemängeln ist nicht, dass sie nicht bleiben dürfen, sondern, dass es eine Möglichkeit gibt, dass sie mitmachen können. Das ist für manchen Familien auch schon ein großer Schritt und erfordert viel Vertrauen, das nur darüber gelingt aufzubauen, dass die entsprechende Begleitperson mit der Familie spricht im Vorfeld
Workshopleiter*innen – aus Teilnehmer*innen werden Leiter*innen
Vier der sieben diesjährigen Workshops wurden von ehemaligen Teilnehmenden geleitet. Begonnen wurde mit professionellen und pädagogisch ausgebildeten Jugendkulturschaffenden, die in ihren Workshops Jugendliche so unterstützt und gefördert haben, dass manche dieser Jugendlichen sich nach einigen Jahren Beteiligung vorstellen konnten, selbst einen Workshop anzubieten. Die Übergänge sind problemlos gelungen, niemand der Teilnehmenden stellt je in Abrede, dass Workshops von ehemaligen Teilnehmenden geleitet werden, ganz im Gegenteil:
- im dritten Jahr schon wurde der Rap-WS von einer ehemaligen Teilnehmerin geleitet, die seit Jahren auch für meinTestgelände Rapsongs schreibt und produziert (u. a. „I have a dream“, der Song zum GD/BD) und die als Frau in den ersten Jahren nur Jungen als Teilnehmende hatte. Dass sie den Rap-WS so lange leitet, hat sicherlich in diesem Jahr dazu beigetragen, dass erstmal auch einige Mädchen teilnahmen
- der Spoken Art-WS wurde von einem jungen Slamer übernommen, der im zweiten Jahr diesen Workshop leitet, nachdem er in den ersten vier Jahren des #gelände seine Kunst weiter entwickelte. Von Anfang an hatte sein WS großen Zulauf, die Teilnehmenden großes Vertrauen in ihn, weil viele ihn schon als Teilnehmer kennen gelernt hatten
- act, comedy and self performance war in diesem Jahr neu im Programm, ein Methodenworkshop zum Thema Geschlechterverhältnisse – beide WS-Leiter*innen (männlich und weiblich) waren zuvor viele Jahre Teilnehmende beim #gelände. In diesem Workshop schrieb im geschützten Raum und beraten durch die WS-Leiter*innen Celine ihren Text über die sexuelle Gewalt in ihrer frühen Jugend – ein Hinweis darauf, wie sicher, geschützt und gestützt der WS geleitet wurde
- how to Instagram war ebenfalls ein neuer WS, der von einer Autorin* von mT angeboten wurde, die im Projekt u.a. die Facebook- und die Instagramseite betreut und selbst als Autorin Texte und Videos auf meinTestgelände veröffentlicht. Viele Teilnehmende kannten ihre Beiträge auf mT, was eine positive Verbindung herstellen konnte.
Gender ist kein Auftrag sondern Filter
Obwohl das #gelände ein zentrales Instrument von meinTestgelände ist, haben die WS nicht den expliziten Auftrag, zu Geschlechterthemen zu arbeiten. Trotzdem finden in allen WS Auseinandersetzungen mit Gender statt, wie bei den Präsentationen der Ergebnisse im Kultopia jedes Jahr wieder zu sehen ist. Wie gelingt das? Mit allen WS-Leitenden wird im Vorfeld kommuniziert, was für ein Projekt mT ist, was der Auftrag ist und wie das #gelände also in die Ziele von mT eingebettet ist. D. h., den WS-Leitenden ist bewusst, dass von ihnen Gendersensibilität erwartet wird und dass sie Geschlechterthemen aufgreifen und bearbeiten, wo immer sie im WS auftreten. Das tun sie natürlich, weil sie immer aufscheinen, wenn Menschen sich begegnen. So ist gender zunächst inhärent und wird dann thematisiert, wenn entsprechende Fragen auftauchen. Ein ähnliches Prinzip gilt auch für die Betreuung/Begleitung der Jugendlichen außerhalb der WS-Zeiten. So sind Geschlechterverhältnisse immer (wieder) Thema, ohne dass sie explizit thematisiert werden, ohne dass die Jugendlichen dies tun.
Teilnehmer*innen
Am #gelände 2019 nahmen 30 Jungen*, 21 Mädchen* und 1 diverse Person teil, außerdem 5 Betreuer*innen, 2 Filmer, 8 Workshopleiter*innen und drei Teamer von meinTestgelände teil – damit war das #gelände wie jedes Jahr ausgebucht. Das Verhältnis von Jugendlichen zu Erwachsenen. Knapp ein Viertel der Plätze gehen damit an betreuende, organisierende, Workshop leidende und filmende Fachkräfte. In den sechs Jahren, die das #gelände nun durchgeführt wird, hat sich gezeigt, dass dieser Schlüssel zwischen Jugendlichen und Erwachsenen gebraucht wird, um so viel Sicherheit herzustellen, dass die Jugendlichen in den Workshops arbeiten, sich öffnen und ihre Themen reflektieren und in Kunst umsetzen können und sich am Ende trauen, mit ihrer Performance und ihren Themen auf die öffentliche Bühne zu gehen und letztendlich auch im Netz auf meinTestgelände zu landen.
Ca. die Hälfte der Teilnehmer*innen war schon ein- oder mehrmals in den Vorjahren beim #gelände, die andere Hälfte ist neu. Da fast alle Jugendlichen aber in Gruppen anreisen, kommt niemand alleine im Sinne von niemand vor Ort zu kennen. Viele Jugendliche sind auch Mitglieder von Redaktionsgruppen oder nehmen auch an anderen Workshops von meinTestgelände teil, so dass sich viele Jugendliche über verschiedenste Kanäle und Beziehungen kennen. Das stabilisiert und gibt Sicherheit von Anfang an und bereitet einen vertrauensvollen Boden für die gemeinsame Arbeit.
Empowermentprinzip
Spätestens bei der Präsentation der Workshopergebnisse auf der großen Bühne des Kultopia zeigte sich dieses Jahr deutlicher als in jedem Jahr zuvor: Das #gelände hat einen sehr speziellen ‚Spirit‘, den insbesondere die Jugendlichen selbst bemerken und schätzen und der ihnen erlaubt, Selbstbewusstsein, Kraft und Zutrauen zu finden. Jungen und Mädchen standen auf der großen Bühne und hinterließen Tränen, Bewunderung und Anerkennung für den Mut, sich so zu zeigen, zutiefst persönliche Themen kunstvoll aufzuarbeiten und vor 100 Menschen zu präsentieren. Viele der Ergebnisse sind inzwischen auf meinTestgelände zu sehen, die restlichen Beiträge folgen in den kommenden Wochen und Monaten.
Viele der Jugendlichen erleben immer wieder Abwertungen, Zuschreibungen, Beschimpfungen, Verweigerung von Anerkennung, Rassismus, Sexismus und Gewalt, auch im Kontext staatlicher Bildungs- und pädagogischer Institutionen. Das #gelände ist ein Ort, an dem es solche Erlebnisse nicht gibt und mehr noch: an dem es die Sicherheit gibt, dass ihnen so etwas nicht passieren wird (deshalb das Gruppenbegleiter*innenkonzept und die pädagogisch erfahrenen Workshopleiter*innen). Das führt dazu, dass Jugendliche sich frei entfalten können und angstfrei in Begegnungen gehen und ihre Fähigkeiten testen und zeigen können.
Durch welche Faktoren aber entsteht dieser ‚Spirit‘? Was macht es aus, dass Jugendliche sich selbstverständlich gegenseitig akzeptieren und unterstützen und nicht ‚dissen‘ oder ‚mobben‘ ob der Unterschiede? Warum sind Hautfarbe, Handicaps, Sprache, Religion, Kleidung, Geschlechter und Alter keine Differenzlinien, die Unterschiede aufbauen und Hierarchien herstellen sondern menschliche Merkmale, die für das Miteinander keine Bedeutung bekommen?
Wenn es keine Mehrheitsgruppe gibt, erschwert dies Dominanzkulturen: die Zusammensetzung der jugendlichen Teilnehmer*innen ist so vielfältig, dass es keine Mehrheitsgruppe gibt sondern eine große Vielfalt von Menschen unterschiedlichster Merkmale und ohne Mehrheitsgruppe können sich Dominanzen und Hierarchien nur
schwerlich aufbauen. Das scheint ein wesentliches Gelingensmerkmal für die gegenseitige Anerkennung zu sein: „alle sind anders, alle sind gleich“.
Alle Jugendlichen haben ein Sicherheitsbackup durch ihre Begleiter_innen. Niemand (bis auf die Autor*innen, die alleine anreisen und die von uns eine besondere Ansprache bekommen) ist da ohne eine erwachsene Vertrauensperson. Gerade in der Vielfalt der Menschen scheint dies eine wichtige Sicherheitsbasis zu sein, von der aus sich Jugendliche frei bewegen können.
Anerkennung durch professionelles Personal ist ein weiterer Faktor des Gelingens. Die Workshop-Leiter_innen sind alle Koryphäen ihrer Fachgebiete und zusätzlich in der Arbeit mit Jugendlichen ausgebildet und erfahren und/oder ehemalige Teilnehmende mit entsprechenden Kompetenzen. Dadurch erleben die Jugendlichen, dass sie ernst genommen werden und wichtig sind und können sich in den kulturellen Angeboten, für die sie sich entschieden haben, qualitativ weiter entwickeln.
Das Hauspersonal ist auf die Gruppe eingestellt, erfüllt Wünsche und regelt den Hausalltag im Hintergrund: es gibt keine Ermahnungen, keine Ansagen im Vorfeld über Verbote, keine “das geht auf keinen Fall”-Botschaften. Vielmehr geht die Jugendherberge mit unserem Konzept mit, dass Respekt durch Respekt entsteht und nicht durch Verbote. Das ist die Botschaft von uns an die Jugendlichen zur Eröffnung der Woche, mehr Ansagen gibt es nicht und der Erfolg gibt uns Recht.
Das Team des Projekts bietet Sicherheit, indem immer Jemand ansprechbar ist, für Probleme schnelle Lösungen gefunden werden, Orientierung geboten wird, Fragen beantwortet, Wünsche erfüllt und Anerkennung gezeigt wird. Die Botschaft “ihr seid hier willkommen und sicher und es gibt kein Problem, für das es nicht eine Lösung gibt” anerkennt die Jugendlichen und gibt ihnen Sicherheit.
Anerkennung in Unterschiedlichkeiten der Jugendlichen untereinander ist ein weiterer Erfolgsfaktor: Gerade durch die Unterschiede, die sich dann in der gemeinsamen Arbeit oft schnell relativieren, weil bspw. Interessen ähnlich sind, machen die Jugendlichen viele Erfahrungen, die Voreinstellungen revidieren und Vielfalt als Qualität fühlen lassen.
Jugendkulturen sind wichtige Ausdrucksmittel auch und gerade von Abwertungserfahrungen, Sehnsüchten, Ängsten, Rassismen und Sexismen. Wer die Sprache nicht spricht, kann sich auch durch Bilder oder den Körper ausdrücken, deshalb ist in der Zusammensetzung der jugendkulturellen Workshops so wichtig, dass es auch diese Möglichkeiten der Expression gibt. Mit jugendkulturellen Mitteln können eigene Erfahrungen abstrahiert und damit sprechbar gemacht werden.
Raum zur Selbstpräsentation braucht es, damit die gemachten Erfahrungen und das Gelernte auch gezeigt werden und damit Erfolgserlebnisse gemacht werden können. Die Präsentation der Workshop-Ergebnisse hat für das Selbstwertgefühl der Jugendlichen eine hohe Bedeutung. Viele der Beiträge stehen im Anschluss auf meinTestgelände online und sind damit einer breiten Öffentlichkeit über die am #gelände Beteiligten hinaus zugänglich. Dies fördert den Stolz zusätzlich und macht es auch Freund*innen und Angehörigen möglich, die Leistungen und den Spaß der Jugendlichen mitzuerleben.
Für das Team von meinTestgelände: Drin. Claudia Wallner im Juli 2019
Impressionen vom #gelände 2019 gibt´s auf meinTestgelände: https://www.meintestgelaende.de/2019/07/impressionen-vom-gelaende19/