Das Mädchen ist immer noch die Schlampe, der Bursche der Held

Sprechen Jugendliche selbst über Sexualität, wird deutlich, wie eng die Grenzen gesteckt sind. Keine Rede von ausschweifendem Sexualverhalten.

In diesem Artikel kommen Jugendliche selbst zu Wort. Im Gendermagazin
meinTestgelaende.de schreiben und performen sie über (ihre) Sexualität und über
Aspekte, die sie dabei bewegen, verletzen und beschäftigen. Deutlich wird:
Sexualität macht viele Probleme und für die Geschlechter sehr unterschiedliche. Im
Artikel werden nach einer kurzen Einführung des Themas Beiträge von
meinTestgelaende.de vorgestellt und in Geschlechterdiskurse eingeordnet. Dabei
wird der Fokus auf sexuelle Orientierungen (schwul, lesbisch, hetero) und auf trans*
und inter* als Geschlechter gelegt.
Die Auswahl und Anzahl der zitierten Stimmen Jugendlicher erhebt keinen Anspruch
auf Repräsentanz. Vielmehr zeigen die Zitate, welche Themen junge Menschen
umtreiben und wie massiv diese Themen ihr Leben oftmals belasten. Diese und
weitere Beiträge auf meinTestgelände sind nicht nur gut geeignet, um pädagogisch
Tätigen Einblicke in jugendliche Lebenswelten zu geben, sondern können auch
vielfältig in der pädagogischen Arbeit mit Jugendlichen verwendet werden, um mit
ihnen ins Gespräch über Sexualität zu kommen.

Jugendliche Sexualität ist nur in engen Grenzen nicht tabuisiert
Was wird nicht alles über jugendliche Sexualität geschrieben. Viele Medien
überschlagen sich seit Jahren mit Behauptungen, dass die heutige Jugend sich von
öffentlich zugänglichen Pornos „ernährt“, hypersexualisiert daher kommt, kaum mehr
Sex, Partnerschaft und Liebe miteinander in Verbindung bringt und überhaupt
reichlich „verdorben“ ist. Das sind mediale, erwachsene Bewertungen jugendlicher
Sexualität, die jede Generation von Jugendlichen trifft. Was aber stimmt, ist, dass
Sexualität für Jugendliche auch heute noch vielen Tabus und (gewalttätigen)
Bewertungen von außen unterliegt und dass die Probleme, die Jugendliche im
Kontext des Entdeckens und Auslebens ihrer Sexualitäten haben, oftmals genau mit
diesen Bewertungen zu tun haben.

Sexualität als Thema auf meinTestgelände
Seit 2013 bietet das von den in Deutschland ansässigen
Bundesarbeitsgemeinschaften Jungenarbeit und Mädchenpolitik betriebene
Gendermagazin meinTestgelände.de Jugendlichen aller Geschlechter eine Onlineplattform. Wir sind ein Team von drei Pädagoginnen, das junge Menschen sucht, findet und einlädt, sich auf der Plattform zu zeigen und die jungen Menschen in allem unterstützt, was sie brauchen, um sich zu zeigen. Zum Konzept gehört, den Jugendlichen keinerlei inhaltliche Vorgaben zu machen, außer, dass ihre Beiträge Geschlechterthemen im Zentrum haben sollten und niemanden verletzen. Junge Menschen aus ganz Deutschland reichen ihre Beiträge ein und bestimmen so die „Farben“ des Magazins, mal alleine als Autorinnen, mal gemeinsam als
Redaktionen.
Alle Beiträge werden getaggt, sodass es relativ einfach ist, sich über die konkreten Themen, die Jugendliche im Kontext von Geschlecht bearbeiten, einen Überblick zu verschaffen. Nur acht der insgesamt 800 Beiträge sind mit dem Tag „Sexualität“ versehen. Das bedeutet aber nicht, dass Sexualität kein wichtiges Thema im Leben
junger Menschen ist. Viel häufiger als Sexualität wird Sexismus thematisiert (41 Beiträge), der ja auf verschiedenste Weisen verletzend auf die Sexualität von Menschen abzielt, um diese oder die Personen selbst zu verunglimpfen. In der

Gesamtschau der genannten Beiträge fällt auf, dass es große thematische Unterschiede gibt in Bezug auf die Geschlechter und auf Liebensweisen und dass alle Geschlechter ihre eigenen Themen haben und Probleme bewältigen müssen.

Schwul sein ist oft mit Angst und Abwertung verbunden
Schwul sein ist eines der zentralen Themen, wenn Jungen über Sexualität schreiben
oder sprechen: Homosexualität unter Jungen wird dabei kaum als etwas Selbstverständliches, Schönes erzählt. Vielmehr geht es fast immer um Abwertungen, Beschimpfungen, Gewalt durch Dritte oder die Scham, die ein Outing hervorruft und die Angst, abgelehnt zu werden. Sven Hensels Slamtext „Pizza Margherita“ bringt sprachlich brutal auf den Punkt, welche Folgen ein Outing auch heute noch haben kann:

„Meine Eltern konnten mit mir nie über meinen Sex reden, weil sie ihn, wie alles andere auch, unter den Teppich kehrten, neben die Bierscherben, neben meine Identität, neben meine Liebe und neben das böse sch… Wort. … Ich wünschte, meine Eltern hätten mit mir über meinen Sex gesprochen. … Es wäre nicht darum
gegangen, mir ein Lebensziel aufzudrängen sondern darum, dass ich auf mich aufpasse: mein Körper ist ein Geschenk, meine Eltern haben ihn selber gemacht und ich soll nicht einfach jeden daher gelaufenen Tunichtgut nichts Gutes mit mir tun lassen. Ich wünschte, sie hätten mich willkommen geheißen…“
(https://www.meintestgelaende.de/2018/03/pizza-margherita/)

In Svens Slam wird deutlich, welch zerstörerische Folgen die Unfähigkeit seiner Eltern, seine Homosexualität zu akzeptieren, für den Erzähler im Leben hatte und hat: Er hält sich für wertlos und gibt seinen Körper und seine Sexualität, wer immer sie will, spürt sich nicht mehr und verliert sich. Der Weg zurück zu sich selbst und zu
seinem Selbstwert von da an ist lang. Künstlerische Texte wie dieser Slam oder Songtexte bieten die Möglichkeit der Distanzierung und Anonymisierung. So kann die erzählte Geschichte zur sprechenden Person gehören oder auch nicht. Ein Kunstgriff, der Jungen Freiheiten eröffnet zu sprechen ohne sich zu outen.

Lesbisch lieben ist kaum Thema
Lesbisch sein dagegen ist viel weniger Thema und wenn, dann eher als Erzählung,
die mit weniger Angst und Abwertung in Zusammenhang gebracht wird. Mädchen
selbst berichten auf meinTestgelände nur selten über lesbische Liebensweisen und
wenn, dann eher als Erfahrungsbericht denn als problematisch. Sarah zum Beispiel
stellt sich in ihrem Beitrag als Sarah, 28 Jahre alt und lesbisch vor und erzählt, dass
sie sich ihr ganzes Leben schon an Frauen orientiert und mit 12 Jahren geoutet
habe.

„Ich bin zu meiner Mama gegangen … und hab zu ihre gesagt; du, du musst mir mal
zuhören, ich hab dir was zu erzählen und hab total angefangen zu weinen, weil ich
selbst mit mir so überfordert war und andererseits aber auch so glücklich, dass ich es
endlich sagen kann und hab im gleichen Moment zu ihr gesagt: bitte sag´s nicht
Papa. Sie hat´s natürlich Papa gesagt. Das fand ich auch vollkommen in Ordnung,
weil das gehört ja einfach dazu, ist ja die ganze Familie. Das war aber der einzige
unsichere Punkt, den ich hatte.“
(Sarah ist lesbisch: https://www.meintestgelaende.de/2016/05/sarah-ist-lesbisch)

Lesbisch zu lieben und damit anerkannt zu werden muss trotz der eher positiven
Erzählungen für Mädchen und junge Frauen nicht unproblematisch sein. Auch in
geschlechterpolitischen und Fachdiskursen über Geschlechterverhältnisse und
Liebensweisen fällt auf, dass Schwulsein häufig Thema ist, lesbisch lieben aber
kaum Erwähnung findet. Es kann sich also auch um einen
Verdeckungszusammenhang handeln, der Mädchen davon abhält zu reden.

Weibliche Sexualität ist immer noch keine Selbstverständlichkeit und allzu oft
gefährlich

Lilith ist Anfang 20 und beschäftigt sich mit feministischen Perspektiven auf
Geschlechterverhältnisse. Ihr fällt auf, dass Sexualität für Mädchen/junge Frauen
auch heute noch mit geschlechtsspezifischen Zuschreibungen, Abwertungen und
realen Gefahren verbunden ist.

Immer noch gelten Mädchen mit mehreren Sexualpartnern als Schlampen, während
das andere Geschlecht mit der Quantität an Kontakten angibt. Auch sexuelle
Belästigung, selbst in der Schule, sei für Mädchen wohl deutlich häufiger als für ihre
Mitschüler. Eine mangelnde Thematisierung von Sexualität und dem Umgang mit
dem eigenen Körper führe auch zu einer hohen Anzahl an versandten Nacktfotos
und dem Konsum von Pornographie. 40% der Jugendlichen im Alter von 10-17
kämen mit diesen Elementen in Kontakt. Gefährlich sei, dass das Gesehene
zunehmend als normal eingestuft würde – schließlich fehle die realistische Referenz.

Lilith spricht damit Kernthemen sexualpädagogischer Arbeit mit Jugendlichen an und
betont im weiteren Verlauf, dass es mehr davon geben müsse, zum Schutz und zur
Aufklärung von Mädchen/jungen Frauen:

„Internetseiten wie meinTestgelände sind die Ausnahme, die die Regel bestätigen.
Wir brauchen mehr von derartigen Initiativen – und mehr mutige Individuen, die das
Thema immer wieder ins Gespräch bringen – ohne Scham und Pein. Nur so können
wir einen offenen und sicheren Umgang mit Sexualität fördern.“

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Heterosexuelle Sexualität zielt auf Geschlechterverhältnisse
Heterosexuelle Sexualität wird auf meinTestgelände selten thematisiert. Wenn, dann
geht es oft um Verhütung und Aufklärung. Junge Frauen sprechen in wenigen
Beiträgen über ihre eigene Sexualität. Ein drittes, deutlich häufiger auftretendes
Thema bezieht sich auf die Ungerechtigkeit, mit der in Familien die Sexualität von
Jungen und Mädchen betrachtet wird: Freiheit für Jungen, starke Reglementierung
für Mädchen. Darüber spricht der Ich-Erzähler im Slamtext von Memo:
„Als Mann lebst du es nach Lust und Laune aus, es ist alles gut,
wenn du es heimlich tust!
Als Frau schaust du nur drauf,
du bist Verdorben und man nutzt es oft nur aus.
Wichtig ist die Sexualität! Doch wer bringt sie dir bei? Geht das so leicht?
Es fühlt sich an wie ein innerlicher Schrei…

Du wächst heran und kommst in die Pubertät, du hast keinen zum Reden und
keinen, der dir etwas erzählt.
Alleine stehst du geplagt von Schuldgefühlen. Du darfst nicht lieben,
es wurde für dich so entschieden,
tatest du es doch, wurdest du gemieden.
Ich frage mich, warum wurde Sexualität so verteufelt, warum durfte man nicht
darüber sprechen?
ist es nicht normal und angeboren?

Die eigene Sexualität darf man nicht verbergen, das gehört nämlich zu unserer
Persönlichkeit,
vielmehr sollten wir diesen natürlichen Drang nach Aufklärung versuchen best
möglichst zu stillen.
Dies ist ein wichtiger Schritt im Streben nach unserer eigenen Freiheit…“

(Memo: Mein Körper, mein Recht: https://www.meintestgelaende.de/2018/04/mein-
koerper-mein-recht/
)

Sexualität, so beklagt der Ich-Erzähler, wurde ihm schon als Kind als etwas Unreines
näher gebracht. Er formuliert seine Verzweiflung, dass etwas, was schön und
natürlich ist, so tabuisiert wird, dass es schwer ist, einen positiven Zugang zu finden.
Deutlich wird eine Zerrissenheit zwischen den eigenen Gefühlen und Wünschen und
den Geschlechterbildern in der Familie, die Sexualität als etwas Ungleiches zwischen
den Geschlechtern und als etwas Unreines beschreiben. Die Auseinandersetzung
mit diesen familiären Vorstellungen von Sexualität taucht in vielen Texten auf und
zeigt, dass manche Jugendliche Probleme mit familiären Vorstellungen von
Sexualität haben, weil sie selbst anders fühlen. Diesbezügliche Beiträge auf
meinTestgelände eignen sich, solche Probleme mit diesem peer to peer Instrument
zu thematisieren.

Trans* oder inter* sein verstärkt die Verquickung von Geschlecht und
Begehren

Zunächst: trans* und inter* sind zwei vollkommen verschiedene Geschlechter mit
unterschiedlichen Auswirkungen auf das Leben. In Bezug auf Sexualität gibt es aber
eine Gemeinsamkeit: Andere Menschen erkennen diese Menschen oft nicht in ihrem
Geschlecht, können sie nicht eindeutig einem Geschlecht zuweisen oder weisen sie
dem falschen Geschlecht zu. Da es für die Sexualität vieler Menschen wichtig ist,
welches Geschlecht der_die Partnerin hat, gibt es eine enge Kausalität von Körpergeschlecht und Sexualität. Nev erzählt aus der Perspektive eines trans Mannes, wie sich das anfühlt.

„Ach, das liebliche Gefühl der Schwärmerei. Man lernt jemanden kennen, findet sich
optisch attraktiv und fühlt sich auch durch stundenlange Gespräche oder endliche
Nachrichten sehr anziehend. Irgendwann kommt der Punkt, an dem man sich trifft
und entweder man kennt sich schon eine Weile oder man sieht sich das erste Mal
und weiß noch gar nicht recht, wie der Gegenüber so tickt. Ich bin anfangs eher der
schüchterne Typ, der dann aber, wenn ich einmal warm bin, sehr offen und
kontaktfreudig ist. Ich kann es nicht pauschalisieren, jedenfalls ist es bei mir so.
Prinzipiell ist es für mich kein Problem von meiner Geschichte – meiner körperlichen
Besonderheit zu erzählen. Doch bei Frauen, gerade wenn man deutliches Interesse
hegt, ist es unheimlich schwer den richtigen Moment abzupassen. Es ist die Angst,
alles auf eine Karte zu setzen und das gute Verhältnis eventuell aufs Spiel zu setzen.

Sich Chancen zu verbauen und dem aufgebauten Vertrauen einfach ins Gesicht zu
schlagen.“ (Nev: Trans* sein im Sommer:
https://www.meintestgelaende.de/2019/09/trans-sein-im-sommer/)

Nev berichtet, wie eng er seine Sexualität mit seinem trans* Sein verbunden sah,
weil er fürchtete, dass eine Frau womöglich Probleme haben würde mit seinem
Körper. Auf meinTestgelände berichtet Nev über viele Jahre immer wieder über seine
Transition und auch über die Liebe zu seiner Freundin und welche Bedeutung sein
Körper darin spielt. Solche Texte sind gut geeignet, mit Jugendlichen darüber zu
sprechen, wie (unterschiedlich) Sexualität und Körper verbunden sind und ob und
wie sexuelle Orientierung und Geschlecht zusammen gehören.

Fazit: zuhören, wertschätzen, einsetzen
Wenn wir jungen Menschen einen Ort zur Verfügung stellen, auf dem sie sich
wertgeschätzt äußern können, dann sprechen sie über Themen, die sie umtreiben,
auch über Sexualität. Ein Onlineportal bietet viele Möglichkeiten, eigene Gedanken
und Texte zu teilen: mit Klarnamen oder anonym, als Tatsachengeschichte oder als
Erzählung. So können junge Menschen auch Themen artikulieren, die schambehaftet
oder schwierig für sie sind. Diese Beiträge wiederum lassen sich erfolgreich als peer
to peer Methode in der sexualpädagogischen Arbeit mit jungen Menschen einsetzen:
So können Jugendliche über Sexualität am Beispiel anderer sprechen und müssen
nicht direkt über das eigene Empfinden sprechen. Aus unserer Erfahrung ist das ein
wirksamer Zugang zum Thema. Versuchen Sie´s: www.meinTestgelaende.de

Dr​ in ​. Claudia Wallner
Veröffentlicht in: schulheft 183 Teil 2, 9-16
Bestellmöglichkeit des Hefts: ​https://www.studienverlag.at/produkt/6157/schulheft-3-
21-183/

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