Vielfalt (er)leben

Vielfalt hat aktuell in der Pädagogik Konjunktur – aber wie kann sie tatsächlich in der Arbeit mit Jugendlichen hergestellt werden? Im Gendermagazin meinTestgelände,  gelingt die Beteiligung unterschiedlichster Jugendlicher, weil das Konzept auf Vielfalt ausgelegt ist.

www.meinTestgelaende.de ist: ein Genderportal, ein Jugendmedienprojekt, ein Projekt, in dem Jugendliche unterschiedlicher Geschlechter, verschiedenster Herkunft, körperlicher, geistiger und psychischer Verfassungen, verschiedener Religionen, Gesellschaftsschichten und individueller sowie sozialer Lebenslagen gemeinsam eine Website durch ihre Beiträge gestalten. Sie schreiben Texte, Songs, drehen Videos, zeichnen Bilder und Comics: alleine, in Gruppen mit pädagogischer Begleitung oder als Künstler*innen. Gemeinsame Klammer ist die Auseinandersetzung mit Geschlechterthemen: Genderanforderungen, Geschlechterrollen, sexuelle Orientierungen, Geschlechtervielfalt, Sexismus, sexualisierte Gewalt, geschlechterbezogener Rassismus, Körpergeschlecht, Sexualität. Kurz: meinTestgelände ist ein Jugendkulturprojekt, das sich moderne Medien zu Nutze macht um zu Geschlechterfragen zu arbeiten.

Was bewegt Jugendliche, mit so heiklen Themen an die Netzöffentlichkeit zu gehen? Geschlechterfragen sind im Jugendalter zentral, weil sich hier der Übergang ins Erwachsenenalter vollzieht und damit Antworten auf die Frage gefunden werden müssen, welche Frau*, welcher Mann* oder wie ich mich ansonsten geschlechtlich verorten und inszenieren will. Das Kollektiv einer gemeinsamen Website, mit der und mit deren Beiträgen sich die Jugendlichen identifizieren, gilt ihnen als sicherer Raum, in dem sie authentisch und offen darüber berichten können, was ihnen zu Genderthemen am Herzen liegt. So wird das Internet, das der öffentlichste aller Räume ist, zum geschützten Raum auch und gerade durch die Vielfältigkeit der Beteiligten.

www.meinTestgelaende.de ist auch ein Jugendbegegnungsprojekt: regelmäßig treffen sich die jugendlichen Autor*innen und Redaktionen gemeinsam mit weiteren interessierten Jugendlichen zu thematischen Workshops und zum jährlichen Jugendkulturevent #gelände, wo sich 70 Menschen aus ganz Deutschland treffen, gemeinsam kulturelle Workshops bestreiten und zum Abschluss ihre Ergebnisse auf professioneller Bühne öffentlich präsentieren. Mit ihren Beiträgen auf der Website kritisieren sie zu enge Geschlechterrollen, gesellschaftliche Zuweisungen und Zwänge, Gewalt, Rassismen und Sexismen, die ihnen begegnen, weil sie einem bestimmten Geschlecht angehören oder wegen ihrer sexuellen Orientierung. In der persönlichen Begegnung erleben und gestalten sie ein Miteinander, in dem diese Vielfalt gerade als Bereicherung erlebt wird, als Möglichkeit, Neues voneinander zu lernen. Gerade weil die beteiligten Jugendlichen an der Website meinTestgelände so divers sind, findet sich diese Diversität auch in den Treffen.

Nach sechs Jahren und 800 Beiträgen wird deutlich: das Vielfaltskonzept hat nicht nur gegriffen, es hat dazu geführt, dass die Zusammensetzung der beteiligten Jugendlichen sowohl auf der Website als auch bei den Treffen hochgradig heterogen ist. Diese Heterogenität wiederum führt dazu, dass Jugendliche miteinander ihre Vielfältigkeit positiv und als Bereicherung erleben können, anstatt Unterschiede, wie sie es in ihrem Alltag allzu oft erleben, als Abwertungs- und Ausgrenzungsinstrument erleben zu müssen. 

Vielfalt ist nicht hierarchiefrei

Menschen sind vielfältig, unterschiedlich, jeder Mensch ist ein Unikat. Wer mit dem eigenen so Sein zur Mehrheit einer Gesellschaft gehört, also bspw. im Norden Europas weiß ist, wer in männlichkeitsorientierten Gesellschaften Mann* ist und/oder heterosexuell orientiert/lebend, wer gesund ist und von durchschnittlicher Statur, der*die bewegt sich in der Mitte oder am anerkannten oberen Rand einer Gesellschaft. Wer aus der Normperspektive zu klein, zu dünn, zu dick, zu dunkel ist, wer also einen nicht der Norm entsprechenden Körper hat, wer sichtbar eine Migrationsgeschichte in seiner Familie hat, wer gleichgeschlechtlich liebt, wer weder Frau* noch Mann* ist, wer einem Geschlecht angehört, aber Körpermerkmale eines anderen Geschlechts aufweist oder bei der Geburt ein dem eigenen Geschlechterwissen abweichendes Geschlecht zugewiesen bekommen hat oder wer ein Handicap aufweist, all diese Menschen machen auch die Vielfalt einer Gesellschaft aus, sie erleben aber oft genau deshalb Abwertung, Ausgrenzung und Gewalt. 

Gleichwertige Vielfalt muss aktiv hergestellt werden

Vielfaltskonzepte zielen darauf ab, all diese Unterschiede als gleichwertig anzuerkennen und als Bereicherung einer Gesellschaft. Vielfalt so verstanden bedeutet Demokratisierung des Geschlechterverhältnisses, Entfaltung kulturellen Reichtums und Respekt vor Individualität in der Erziehung (Prengel 2006, 3. Auflage,13). Vielfalt ist demnach ein Akt der Demokratisierung von Gesellschaft, für die bestimmte Werte gelebt und umgesetzt werden müssen. Vielfalt ist damit kein Zustand, sondern ein stetiger Prozess, in dem darum gerungen wird, dass dem Grundgesetz entsprechend alle Menschen gleich(wertig) sind.

Gelungenes Vielfaltskonzept bei meinTestgelände

Wie also gelingt es in einem Genderprojekt, das von Jugendlichen getragen wird und dass das Netz als Bühne nutzt, Vielfalt in Gleichwertigkeit herzustellen?

  • Die Arbeit der Jugendlichen Wert schätzen

meinTestgelände verfügt über einen Onlineredakteur, der mit den Jugendlichen kontinuierlich in Kontakt ist und sie auch bei der inhaltlichen, technischen und gestalterischen Erstellung ihrer Beiträge unterstützt, sofern sie dies möchten und brauchen. Auch erhalten die Jugendlichen ein kleines Honorar für ihre Arbeit als Autor*innen.

  • Die, die keine*r hört, in den Mittelpunkt stellen

Jugendliche, die oftmals Abwertung erleben wegen ihrer Zugehörigkeit, ihrer sexuellen Orientierung, ihres Geschlechts …, erhalten kaum die Möglichkeit, sich öffentlich zu ihrer Situation und ihren Werten zu äußern und sind deshalb oftmals skeptisch und zurückhaltend. Nach diesen Jugendlichen muss aktiv gesucht werden (z. B. in den sozialen Netzwerken, in der Jugend-Medien-Bildungsarbeit) und es muss durch die Zusammenstellung der Beteiligten sowohl bei den Treffen als auch auf der Website sicher gestellt werden, dass diese Jugendlichen keine Randstellung bspw. dadurch erhalten, dass sie nur marginal beteiligt werden. 

  • Mehrheitsgruppen gilt es zu vermeiden

Die Deutungsmacht von bspw. Heterosexuellen oder weißen Personen entsteht dadurch, dass sie in der Gesellschaft die quantitative Mehrheit bilden. Eine auf Gleichstellung ausgerichtete vielfältige Gruppe braucht deshalb eine Verteilung, in der es allein quantitativ keine dominanten Gruppen gilt. Dies muss aktiv hergestellt werden.

Einladung zum Mitwirken

meinTestgelände ist eines der wenigen Jugendprojekte, in denen Jugendkultur, Mediennutzung und Gender zusammen wirken und die Jugendlichen frei und authentisch ihre Einsichten öffentlich machen und miteinander diskutieren können. Jugendkulturelle Projekte sind jederzeit willkommen und eingeladen, sich mit Beiträgen zu beteiligen und/oder mit Jugendlichen am #gelände teilzunehmen.

Literatur:

Prengel, Annedore 2006: Pädagogik der Vielfalt. 3. Auflage, Wiesbaden S.13

Drin. Claudia Wallner/Michael Drogand-Strud/Robert Lejeune

www.meinTestgelaende.de 

Veröffentlicht in: Bundesverband der Jugendkunstschulen und Kulturpädagogischen Einrichtungen e.V. (Hg.): infodienst. Das Magazin für die kulturelle Jugendbildung Heft 133, Oktober 2019, S.26-27

Bestellmöglichkeit des Hefts: https://www.lkd-nrw.de/lkd/themenhefte.html