Hübsch oder cool? Hilfsbereit oder technikaffin? Eine Einführung in die Arbeit zu binären Normen und stereotypen Erwartungshaltungen
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es in Artikel 1 des Grundgesetzes. Darin liegt – theoretisch – die Basis und Grundvoraussetzung unseres Zusammenlebens und allen politischen Handelns. Weil das aber sehr allgemein ist, wird im weiteren Verlauf der deutschen Verfassung detaillierter beschrieben, was diese abstrakte „Würde des Menschen“ konkret ausmacht: Religions- und Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung, Versammlungsfreiheit, die Wahrung des Post- und Telekommunikationsgeheimnisses, der Schutz von Wohnung und Privatsphäre, körperliche Unversehrtheit und über allem, deshalb steht es auch direkt in Artikel 2: „die freie Entfaltung der Persönlichkeit“. Das klingt zwar ganz schön, und auf den ersten Blick könnte man meinen, dass doch in einer Demokratie auch alle, die zur Schule gehen dürfen, die nicht im Gefängnis sitzen, diese Freiheit haben. Und der Artikel 3 sagt ja sogar „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“, wo also liegt das Problem?
Unterschiedliche Erwartungen an Kinder
Das Gegenteil der „freien Entfaltung der Persönlichkeit“ sind enge Regeln und Normen, starre Rollenbilder und Erwartungshaltungen, die uns nahelegen oder vorschreiben, was und wie wir zu sein haben. Die sind zwar nicht schwarz auf weiß im Grundgesetz festgehalten, und trotzdem sind sie im Alltag ständig präsent und beeinflussen das eigene Tun. Wenn Sie sich einen Tag in Ihrem Beruf vor Augen führen, angefangen am Morgen beim Anziehen, übers Tasche packen, die erste Begegnung mit Kolleg*innen, Jugendlichen, Kindern … wie oft spielt Ihr eigenes Geschlecht bzw. das Geschlecht Ihres Gegenüber dabei eine Rolle? – Gibt es überhaupt Situationen, in denen das Geschlecht keine Rolle spielt? – Hatte es Einfluss auf Ihre eigene Berufswahl? Durften Sie als Kind und Jugendliche*r frei träumen, was und wie Sie einmal werden, „wenn ich einmal groß bin“? Dennis zeigt mit seinem Text auf meinTestgelände, dass das Thema Geschlechterrollen kein neutrales ist, sondern eines, das berührt, denn es ist immer persönlich. Nicht nur für Dennis geht es dabei ums Dazugehören bzw. um Ausgrenzung und emotionalen Druck: (https://www.meintestgelaende.de/2019/06/geschlechterrollen-scheissthema-2/)
Zweiteilung der Welt – unterschiedliche Chancen
Was assoziieren Sie selbst als Fachkraft mit dem Thema Geschlechterrollen? Wenn Sie es auf sich selbst beziehen, Ihre persönlichen Erfahrungen damit, welche Momente, welche Menschen sehen Sie vor sich, welche Dialoge erinnern Sie?
„An ihr ist ein Junge verloren gegangen“, „Er sieht aus wie ein Mädchen“, urteilen nicht wenige über Kinder und Jugendliche und ordnen sie zwei Kategorien zu, zwei Schubladen mit engen Regeln. Sie haben ziemlich genaue Vorstellungen davon, wie ein Junge sich zu verhalten, ein Mädchen auszusehen hat, um „richtig“ zu sein in der jeweiligen Schublade. Nämlich stark und cool, unabhängig und abenteuerlustig als Junge; hilfsbereit und kommunikativ, hübsch und empathisch als Mädchen. Eng damit verknüpft sind die Chancen und Möglichkeiten in Berufsfeldern, in denen zu über 95% Frauen arbeiten (frühkindliche Erziehung bzw. allgemeiner die SAHGE-Berufe mit einem Frauenanteil von über 80%) oder zu über 70% Männer (in Führungspositionen bzw. in den MINT-Berufen mit einem Männeranteil von knapp 85%).
Geschlechterrollen nehmen Einfluss darauf, wie wir unser Leben gestalten als Kinder, als Geschwister, als Freund*in, Schüler*in, als Eltern. Die „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ ist umso eingeschränkter, je enger das Umfeld die Regeln ums Mann- und Frau-Sein definiert. Zwar sind die meisten im ersten Nachdenken davon überzeugt, dass solche Regeln heute keine große Rolle mehr spielen. Vorbei sind doch die Zeiten, in denen Mädchen lange Zöpfe tragen mussten und Jungs nicht weinen durften … wirklich?!? Wie kommt es also, dass sich limitierende Rollenbilder und Erwartungshaltungen immer wieder aufs Neue reproduzieren, allen gleichstellungspolitischen Bemühungen und Initiativen zum Trotz?
Rote und blaue T-Shirts – Erkenntnisse der Minimalgruppenforschung
Menschen haben nicht nur eine individuelle, sondern darüber hinaus auch eine soziale Identität, genau genommen eine Vielzahl an sozialen Identitäten. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit ist also immer auch abhängig von den sozialen Gruppen in die wir hineingeboren werden (Herkunft, Religion, Bildungsschicht, Wohnort etc.), für die wir uns selbst entscheiden, mehr oder weniger (Sportverein, ehrenamtliches Engagement, Freund*innenkreis) oder in die wir gesteckt werden. Und damit wir ein Gefühl der Zugehörigkeit entwickeln können, passen wir unsere Interessen, Verhaltensweisen und Meinungen dem jeweiligen Gruppenkonsens an. Wie schnell und umfassend das geschieht, soll beispielhaft eine Studie der University of Texas zeigen aus dem Jahr 2006 (Patterson/Bigler, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/16942493/):
Psycholog*innen haben dafür Vorschulkinder in eine blaue und eine rote Gruppe eingeteilt: Drei Wochen lang trugen die einen ein rotes T-Shirt, die anderen ein blaues. Blaue und Rote wurden gleichmäßig auf zwei Räume verteilt, sodass in beiden Räumen Kinder in roten und in blauen Shirts waren. Im einen Raum wurden die Farben nicht weiter erwähnt, im anderen dagegen sprachen die Erzieher*innen die beiden Kategorien immer wieder an: »Guten Morgen Blaue, guten Morgen Rote.« Sie verteilten blaue und rote Schildchen, die Kinder sollten sich morgens in zwei Reihen nach rot und blau getrennt aufstellen und so weiter. Als die Kinder beider Räume danach zu mehreren Themen befragt wurden, zeigte sich, dass sie lieber mit Kindern derselben Farbgruppe spielen wollten und auch Spielsachen lieber mochten, die die Kinder der eigenen Gruppe bevorzugten. Bei den Kindern aus dem Raum allerdings, in dem die Erzieher*innen die Farbunterschiede regelmäßig betont hatten, waren diese Vorlieben sehr viel stärker ausgeprägt.
Drei Wochen in blauen und roten T-Shirts haben ausgereicht, dass sich die zuvor gewachsene soziale Struktur der Gruppe verändert hat – Kinder spielten lieber mit Kindern derselben Farbgruppe. Und auch die (eigentlich doch individuellen) Interessen der Kinder haben sich gewandelt, je nach Gruppenkonsens wurde mehr Fußball gespielt, gebastelt, sich verkleidet, gebaut oder um Puppen gekümmert.
Gruppentrennung führt zu „Gleichmacherei“
Eine Trennung in zwei Gruppen führt also zu Vereinheitlichung. Sie führt zu einer spürbaren Homogenisierung innerhalb der jeweiligen Gruppe und zum sogenannten Fremdgruppen-Homogenitätseffekt: Der „Alle anderen sind gleich“-Effekt tritt bei jeder Art von Gruppenzugehörigkeit ein, er betrifft nicht nur das Aussehen, sondern auch das Verhalten. Mögen aus amerikanischer Sicht nicht doch alle Deutschen Bier? Und können Menschen schwarzafrikanischer Herkunft nicht irgendwie alle besser tanzen? Es mag nicht abwertend gemeint sein, diskriminierend ist es trotzdem, Geschmacksvorlieben oder rhythmische Fähigkeiten an Nationalität oder Hautfarbe festzumachen. Es sind Urteile, die von natürlichen Merkmalen ausgehen und aus der Distanz gefällt werden; Individualität wird dabei ignoriert: In der Theorie gestehen wir jungen Menschen aller Geschlechter alle menschenmöglichen Verhaltensweisen, Charaktereigenschaften und Fähigkeiten zu. Wir sind uns einig, dass wir ihnen unabhängig vom Geschlecht alle Entfaltungsmöglichkeiten geben wollen. Doch im Alltag zeigt sich: Der Einfluss von Gewohnheiten, von historischen Entwicklungen und Werten ist immer noch so groß, dass wir mit Begrifflichkeiten wie „normal“, „typisch“ oder „so sind sie eben“ hantieren. Die Auswahl an Geschlechterrollen bleibt binär und in den meisten Situationen auf die Kategorien Mädchen bzw. Junge reduziert. Auch Jugendliche, die sich als enby, agender, trans oder inter identifizieren werden in diese beiden Rollen gedrängt, jedes anders-Handeln wird zur Grenzüberschreitung. Es ist menschlich, sich an die Gruppe anzupassen, mit der sich eins identifiziert, der man sich nahe fühlt. Und damit verändern sich auch unsere Interessen, Verhaltensweisen und sozialen Kontakte. Aber was, wenn keine der beiden zur Wahl stehenden Rollenbilder passen? Es ist wichtig, sich diese Grundvoraussetzung menschlichen Zusammenlebens immer wieder bewusst zu machen: Entscheidungen, die wir treffen, Wünsche und Zukunftsvorstellungen sind immer situationsabhängig, und es ist okay und normal, sich am nächsten Tag anders zu entscheiden, zu verhalten und zu interessieren. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite werden wir aber auch von anderen Menschen anders beurteilt, je nachdem welcher Gruppe sie uns zuordnen. Und damit wird unser individuelles Verhalten als typisch oder untypisch bewertet, wir gelten als normal oder eben nicht. Natürlich gilt das auch für uns selbst, auch wir bewerten Menschen nach ihrer jeweiligen Gruppenzugehörigkeit, wir alle. Es ist menschlich, Vorurteile zu haben. Aber es ist diskriminierend, diese Vorurteile nicht zu reflektieren und zu überlegen, wie wir ihren Einfluss ausgleichen und reduzieren können.