Lebensläufe junger Menschen – eine Einführung

Zwischen unendlichen Möglichkeiten und starken Einflüssen – wie Übergangsphasen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen gestaltet werden.

Wie junge Menschen ihre Lebenswege gestalten, welche Möglichkeiten sie bezüglich Bildung, Berufsorientierung, Selbstverwirklichung und Zukunftsgestaltung haben und welchen Einflüssen sie dabei ausgesetzt sind, war noch nie so stark von Vielfältigkeit geprägt wie heutzutage. Sicherlich blicken ältere Generationen mit Neid auf diese Vielfalt und dieses Offenstehen (fast) aller Türen, gleichzeitig birgt diese Vielfalt aber auch jede Menge Herausforderungen.

Umso wichtiger ist es, in der Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen dies zum Thema zu machen, einen Austausch zu ermöglichen und Begleitung anzubieten. Die „Lebenslauf-Videos“ auf www.meintestgelaende.de bieten eine gute Möglichkeit, mit jungen Menschen über die unterschiedlichen Lebens- und Bildungswege ins Gespräch zu kommen, zu reflektieren und zu diskutieren.

Bevor es aber in die Praxis geht und konkrete Werkzeuge, Ideen und Methoden dafür vorgestellt werden, lohnt es sich, einige Hintergründe zu beleuchten:

  • Was sind aktuelle Herausforderungen für junge Menschen, die sich (unter anderem) beim Übergang ins Erwachsensein bemerkbar machen?
  • Was ist ihnen aktuell wichtig und erstrebenswert für ihre Zukunft?
  • Welchen Einfluss haben das Elternhaus oder nahestehende Personen auf ihren Lebensweg und wie kann es uns Fachkräften gelingen, sie auf ihrem ganz individuellen Weg zu begleiten und zu unterstützen?
  • Und mit welcher eigenen Haltung, welchen Annahmen und mit welchen Paradigmen begleiten wir Fachkräfte junge Menschen?

Die Welt ist groß! Vielfalt und Komplexität

Die vielfältigen Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten können für menschche Jugendliche als Chance oder gar als Glück oder Privileg angesehen werden, anderen hingegen fällt es schwer, sich im komplexen Dschungel des Übergangs ins Erwachsenenleben zurechtzufinden. Konkret kann mensch folgendes beobachten:

  • Die Herausforderungen für junge Menschen beim Übergang ins Erwachsenenleben sind bei Weitem nicht nur der Einstieg in Ausbildung, Studium und Beruf. Es gibt noch sehr viel mehr zu bewältigen: Erprobung und Kennenlernen eines selbstständigen Lebens, zum Beispiel durch Auszug aus dem Elternhaus und Orientierung in der Erwachsenenwelt. Aber auch das Knüpfen von (neuen) Freundschaften und Netzwerken, das Sammeln von Erfahrungen in Beziehungen und Sexualität und die Auseinandersetzung mit der sexuellen Identität/dem Geschlechterwissen sind zentrale Aspekte in dieser Phase. Zudem sind all diese Themen eng miteinander verwoben und bedingen sich gegenseitig. Es ist also immer relevant und wichtig, sich des gesamten Themenspektrums bewusst zu sein und feinfühlig auf die jeweiligen Teilaspekte einzugehen, wenn Sie als Fachkraft junge Menschen in den Übergangsphasen begleiten.
  • Ein weiterer, nicht zu vernachlässigender Aspekt ist die sich immer weiter ausdehnende Jugendphase: sie startet früher und endet – ja wann eigentlich? Ab wann fühlt mensch sich „so richtig erwachsen“ oder „angekommen“? Die Berufsorientierung beginnt immer früher, das erste Praktikum zur Berufsorientierung soll bestenfalls mit 12 oder 13 Jahren absolviert werden, gleichzeitig hat mensch es aber noch lange nicht „geschafft“, wenn die erste feste Anstellung ergattert wurde. Die Lebensphase, in welcher die Berufsorientierung eine zentrale Rolle spielt, wird länger und somit auch die damit einhergehenden Belastungen wie Entscheidungsdruck, geringe finanzielle Sicherheit, unklare Zukunftsperspektiven.
  • Die Vielfalt an Bildungswegen und Berufen nimmt weiterhin zu, das heißt, es gibt nicht nur immer mehr Ausbildungsberufe und Studiengänge, sondern auch immer mehr unterschiedliche Formate der Berufsbildung. Als Beispiel: Viele Berufe kann mensch mittlerweile als Ausbildung erlernen, gleichzeitig werden aber immer mehr gleichnamige Bachelorstudiengänge angeboten. Oder: Alleine in den unterschiedlichen Bundesländern in Deutschland werden Ausbildungen oder Studiengänge zu dem identischen Beruf vollkommen anders aufgebaut und umgesetzt.
  • Mobilität und Flexibilität, beispielsweise an den gewünschten Ausbildungs- oder Studienort umzuziehen, eine eigene Wohnung oder ein Zimmer zu finden, für Praktika ins Ausland zu gehen, stellen zum einen eine große organisatorische Herausforderung dar. Dies eventuell sogar alleine zu meistern ist schon oft schwierig genug. Zudem wird es aber zunehmend zu einem Privileg, denn die finanziellen Belastungen, die damit einhergehen, können viele junge Menschen nicht mehr so einfach stemmen. Gleichzeitig werden Mobilität und Flexibilität oft als selbstverständlich angenommen und sind feste Parameter, die in gewissen Peergroups, in Lebensläufen und nicht zuletzt bei der Personalauswahl erwartet werden.
  • Daneben gibt es auch viele junge Menschen, die es nicht mehr als erstrebenswert ansehen, irgendwo anzukommen oder den einen Beruf für immer auszuüben. Junge Menschen, die einen „klassischen“ Lebensweg Schule-Abschluss-Ausbildung/Studium nicht vorweisen, werden auch heute noch öfter als „planlos“ oder „unnütz“ angesehen und dadurch mit negativen Konnotationen versehen. Dass aber viele junge Menschen mit genau einem solch fluiden Lebensweg glücklich und zufrieden sind, scheint oftmals nicht als „Mehrwert“ für die Gesellschaft angesehen zu werden. Es lohnt sich, über diesen Aspekt mit jungen Menschen ins Gespräch zu kommen. Hierzu passen beispielsweise die Videoclips von Manuel oder FaulenzA.

Du bist was du isst! Das Elternhaus entscheidet (mit)

Neben der Vielfalt beeinflusst noch ein weiterer Aspekt den Lebenslauf und somit auch die Entscheidungen bei Übergängen, zum Beispiel in die Ausbildung oder das Studium: es ist das Elternhaus beziehungsweise das familiäre Umfeld der jungen Menschen.

Sowohl in der 18. Shell Jugendstudie von 2019 als auch in der Sinus Jugendstudie von 2020 ist dies dargestellt worden. Das ist ein spannender Aspekt, wenn mensch bedenkt, dass es einerseits heutzutage immer seltener der Fall ist, Familienberufe zu erlernen, da Familienbetriebe übernommen werden müssen, gleichzeitig aber der Einfluss der Eltern weiterhin – oder wieder – sehr hoch ist. Das familiäre Umfeld ist das, was junge Menschen als (positives oder negatives) Vorbild tagtäglich erleben, woraus sich viele Annahmen, Werte, Ziele und Wünsche entwickeln. Passende Beispiele aus den Lebenslauf-Videos sind hier Eve, die sagt, dass ihr Interesse an Feminismus, was sie auch beruflich einfließen lässt, durch ihre Mutter geprägt wurde oder Tobias, dessen Mutter ebenfalls in der Geburtshilfe arbeitet und er sehr positiv bewertet, den gleichen Beruf wie seine Mutter ergriffen zu haben. Oder aber Ayman, der sehr eindrücklich beschreibt, dass sein erster Beruf, welchen er in Syrien gelernt hatte, ein, wie er es nennt, „Familienberuf“ ist, den er nicht selbst gewählt hat.

Junge Menschen werden immer ein Stück weit von den Biografien der Eltern beeinflusst. Viele Paradigmen, Vorurteile und Glaubenssätze der Eltern begleiten ihren Weg. Wenn vonseiten der jungen Menschen hier ein Auf- oder auch ein Ausstiegswunsch besteht, bedarf es von ihnen immer einer Menge Mut, Kraft und weiterer Ressourcen.

Genau hier kann die Jugendarbeit aber auch die Berufsvorbereitung und Berufsberatung sowie Jugendberatung sehr gut ansetzen und junge Menschen darin begleiten und unterstützen, Lebenswege zu wählen, die sich nicht am Bildungsgrad oder den Erwartungen der Eltern, sondern vielmehr an den individuellen Interessen, Stärken und Fähigkeiten der jungen Menschen orientieren. Dadurch könnte mehr Selbstverwirklichung, Sinnfindung und Bedingungslosigkeit entstehen und somit mehr Zufriedenheit und weniger Druck, etwas erfüllen zu müssen, was mensch nicht kann oder möchte.

Weiterlesen unter:

https://www.shell.de/ueber-uns/shell-jugendstudie.html

Dazu passendes Schaubild: https://www.shell.de/about-us/shell-youth-study/infographics/_jcr_content/par/expandablelist/expandablesection_1315131795.stream/1570991137880/54ecc119c761e9bb1783450fd02936e412712394/shell-youth-study-infographic-leisure-occupation-and-education.pdf

Sinus Jugendstudie: https://www.bpb.de/311857

Klischee ade?

Neben dem starken Einfluss des Elternhauses und der zunehmenden Komplexität gilt es noch einen weiteren sehr bedeutsamen Aspekt zu beleuchten, welcher junge Menschen in ihren Entscheidungen in den Übergangsphasen prägt: Die vorherrschenden Zuschreibungen, was männlich oder weiblich ist. Nach wie vor gibt es genügend Berufe, die als typisch weibliche oder männliche Berufe gelten, denn immer noch werden diese tatsächlich mehrheitlich entweder von Männern* oder von Frauen* ausgeübt. Und auch wenn in einigen Berufsfeldern, wie beispielsweise bei den Gesundheitsberufen, ein Wandel erkennbar ist, so sind die Geschlechterstereotype und die daraus resultierenden Einschränkungen in der Berufswelt omnipräsent.

Zudem hat das eigene Geschlecht nicht nur konkret bei der Auswahl des Berufes einen starken Einfluss auf junge Menschen. Auch subtilere Aspekte, wie zum Beispiel weiterhin gesellschaftlich stark festgelegte Rollenbilder in Bezug auf Familiengründung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf oder Zuschreibungen im Bezug auf Fleiß, Intelligenz, Mut, Körperkraft oder Konfliktlösungen, beeinflussen letztendlich junge Menschen in ihren Entscheidungsprozessen.

Auch hier kann und sollte mensch als Fachkraft ansetzen und darüber mit Jugendlichen ins Gespräch und in die Diskussion kommen, wenn das Thema Berufsorientierung ansteht.