Thema Männlichkeit – eine lebensnahe Einführung

So verschieden Jungen sind und leben, so starr sind die Männlichkeitskorsetts und so groß der Bedarf an Unterstützung

Männlichkeit kann als soziale Konstruktion beschrieben werden, die sich nach Ort, Zeit und gesellschaftlichem Verständnis richtet. Nehmen wir als Beispiele Tokio und Berlin vor 100 Jahren. Da wäre die Frage „Was macht für dich einen Mann aus?“ sicher von Stadt zu Stadt unterschiedlich und anders als heute beantwortet worden. Machen Sie sich selber ein Bild davon und geben in einer Suchmaschine einmal „Männer 1900“ und dann Männer 2020 ein, um die Unterschiede besser wahrzunehmen.

In einem Beitrag auf meinTestgelände antwortet Abdul auf dieselbe Frage, dass man ehrlich zu sich selber sein, zu seinen Gefühlen stehen und auch seine Gefühle zeigen soll (Quelle/Verlinkung: https://www.meintestgelaende.de/2016/10/was-macht-fuer-dich-einen-mann-aus/).

Stellen Sie sich als Fachkraft die Frage selber, unabhängig ihres Geschlechts. Vielleicht definieren Sie Männlichkeit auch nochmals ganz anders, wie z.B. Dennis in seinem Text „Geschlechterrollen: Scheißthema“: „Männlich ist gewalttätig, aktiv, Führer, intelligent, planerisch, strukturiert, böse.“ (Quelle/Verlinkung: https://www.meintestgelaende.de/2019/06/geschlechterrollen-scheissthema-2/)

Zurück nach Berlin. Wenn Sie in dieser Großstadt auf der Straße gehen, werden Ihnen ganz unterschiedliche Typen von Männern begegnen. Ihre Kleidung, ihr Auftreten, ihr Aussehen wird vermutlich Unterschiede aufweisen und bei genauerem Hinsehen fällt Ihnen auf, dass einige von Ihnen durchaus eine „gewisse“ Ausstrahlung bewusst einsetzen, während andere unscheinbar wirken, also nicht besonders auffallen.

Diese „gewisse“ Ausstrahlung finden wir in vielen Jungengruppen. Sie zeichnet aus: Stärke, Überlegenheit, Coolness, Kampfbereitschaft. Im Einzelnen wirken diese Jungen durchaus sehr individuell, denn jeder von ihnen hat Seiten, die in der Gruppe unsichtbar bleiben, weil sie dem gängigen Männlichkeitsbildern (der Gruppe) nicht entsprechen und Jungen das nicht zeigen wollen, um nicht als verletzlich zu gelten. Aber das Bild nach außen, zur Öffentlichkeit gewandt, unterstreicht eben ein konformes, unausgesprochen einheitliches Bild von Männlichkeit, in das sie hineinverhandelt wurde. Entweder durch Vorgaben in der Erziehung der sorgenden Erwachsenen und /oder durch den Wunsch nach Anerkennung in einer Gruppe.

Jungen erleben sehr früh Zuschreibungsprozesse, die ihnen eine für sie von Erwachsenen gewünschte Form von „Männlichkeit“ zuweisen. Botschaften können lauten:

Ein Mann weint nicht, heul nicht wie ein Mädchen.

Du bist ein Junge, die sind von Natur aus stärker als Mädchen.

Sei sensibel und empathisch. Zeig Gefühle!

Denke bevor du handelst.

Du musst Mut haben.

Zeige Respekt.

Lass dich nicht unterkriegen, wehr´ dich.

Sei potent und nicht schwul.

Hab Erfolg und verdiene viel Geld.

Du musst einmal die Familie erhalten.

Du musst dein Gegenüber verstehen.

Diese unterschiedlichen Botschaften sind alle an unterschiedliche Jungen gerichtet und zeigen, wie divers Erziehungsmuster sein können. Gleich ist ihnen, dass die Jungen in einer ihrem Geschlecht zugewiesenen Rolle gesehen werden und als solche gewisse Aufgaben zu erfüllen haben. Eine Geschlechtszuschreibung also, die in ihrer Endgültigkeit, oder besser apodiktischen Aussage, eine große Wirkung hat, vielmals werden aber die Konsequenzen übersehen. Als Konsequenz solcher Erziehung kann beispielsweise ein negatives („toxisches“) Bild von Männlichkeit erzeugt werden.

Viele Jungen wachsen mit einem Idealbild vom Mann auf, das prinzipiell unerreichbar ist. Kommerzielle Beispiele dafür sind Sportgrößen, die es erst durch langes, hartes Training und finanziellen Support zu Spitzenleistungen bringen können, sowie Männerbilder aus der Werbung, die Schönheit, Kraft und Anerkanntsein ausstrahlen. Jungen erhalten   zuhause und in den Bildungseinrichtungen wenig soziale Förderung, außerdem werden sie selten zu positiven Verhaltensweisen ermuntert. In Konflikten werden Jungen eher darin bestärkt, sich zu wehren und „ihrem Mann zu stehen“. Dadurch sind viele von der Angst gefangen, als weiblich („unmännlich“) zu gelten. Gefühle zu zeigen und sich Hilfe zu holen, wird als Schwäche interpretiert. Solche Bilder übernehmen Jungen unreflektiert und reproduzieren weiterhin normative Männlichkeitsbilder.

Manche Jungen glauben, dass sie nur mittels Gewalt Respekt erheischen können und rechtfertigen damit auch ihre Übergriffigkeit Anderen gegenüber. Probleme (Konflikte) können ihrer Aussage nach nur mit Gewalt gelöst und die damit verbundenen Sanktionen werden von ihnen ausgeblendet. Jungen leben zudem häufig mit dem Zwang zur ständigen Überlegenheit. Das kann sich im Versuch körperlicher aber auch geistiger Überlegenheit äußern. Männlichkeit kann dann auch bedeuten, keine Probleme zu haben, reale Konflikte werden geleugnet.

Diese Zuschreibungen innerhalb ihrer Peer-Group können durchaus im Gegensatz zu anderen Gruppen von Jungen stehen. Da erst merken Jungen die Widersprüchlichkeit ohne sie tatsächlich zu verstehen, was in weiterer Folge zu Unsicherheiten sowie Verstärkungen ihres Männlichkeitsverständnisses führen kann.

Die eigene Haltung als Fachkraft

Gehen Sie nun einmal in sich und überlegen Sie, wie Sie Männlichkeit(sentwürfe) in Ihrer Kindheit und Jugend erlebt haben. Seien Sie ehrlich zu sich und beantworten Sie folgende Fragen in einem inneren Dialog oder schreiben Sie es für sich auf:

  • Wenn Sie sich dem männlichen Geschlecht zugehörig fühlen:
  • Wie haben Sie damals Männlichkeit erlebt?
  • Inwieweit war Ihnen die Anerkennung innerhalb der eigenen Geschlechtsgruppe wichtig und an welchen Faktoren können Sie das festmachen?
  • In welcher Form war Männlichkeit wichtig für die Zugehörigkeit in Ihrer Gruppe?
  • Was wurde von Ihnen als Mann erwartet? Von anderen Männern? Von Frauen?
  • Wenn Sie sich einem anderen bzw. keinem Geschlecht zugehörig fühlen: Wie haben Sie damals Männlichkeit erlebt?

In der Arbeit mit Jungen ist es wesentlich, sich der Wirkung des eigenen oder auch des zugeschriebenen Geschlechts bewusst zu sein und dies auch zu reflektieren. Für viele Jungen macht es viel aus, wie Sie als erwachsene Person in Ihrem Geschlecht auf sie reagieren. Männliche Fachkräfte werden von Jungen meist stärker als Autoritätsperson als Frauen gesehen, viel davon hat aber auch mit dem Auftreten (Genderperformance) der Fachkraft zu tun. Strenge wird beispielsweise unterschiedlich wahrgenommen, weibliche Fachkräfte werden oft nicht ernst genommen.

Zuwendung wiederum kann bei weiblichen Fachkräften auch sexuell gelesen werden, hingegen wird die männliche Fachkraft als Kumpel oder Ersatzbruder/ -vater anerkannt, was durchaus auch sprachlich sichtbar gemacht wird: „Du verstehst mich, Bruder.“

Reflektieren Sie solche Bilder auch im Team. Diese Ebene muss sich ebenfalls über den Begriff „Männlichkeit“ austauschen, um die verschiedenen Narrative im Blick zu haben. Der Blick von weiblichen Fachkräften kann den (männlichen) Kollegen blinde Flecken aufzeigen, die sie in ihrer Parteilichkeit gegenüber den Jungen auch ändern können, um deren Perspektive auf das Thema zu erweitern.

Männliche Fachkräfte können ihren Kolleginnen wiederum eigene Betroffenheiten sichtbar machen, die selbst erlebte Dilemmata verständlich machen. Was bedeutet es beispielsweise, das Verständnis von Männlichkeit in einer geschlechtshomogenen Gruppe zu hinterfragen?

Der Blick auf die eigene männliche Biographie ist auf jeden Fall hilfreich, selbst erlebte Situationen zu erinnern und sie mit gegenwärtigen zu vergleichen. Was war hilfreich und unterstützend, was war einschränkend und störend? Gleichzeitig kann ein Blick in die Lebensrealitäten von Menschen um einen herum zeigen, welche Strategien des eigenen Männlichkeitsverständnisses verletzend waren, beeinträchtigend oder vernichtend? Welche wurden positiv, unterstützend und freudvoll aufgenommen?

Diese reflexive Grundhaltung ist in der Arbeit mit Jungen wesentlich. Jungen können lernen, wie sie emotional lebendig und selbstverantwortlich agieren können. Durch die Begleitung beim Ausprobieren und Erlernen für sie neuer Verhaltensweisen können sie ihre eigenen Männlichkeitsentwürfe erweitern oder sogar transformieren. Sie können ein „neues“ männliches Selbstbewusstsein entwickeln. Sie entwickeln nicht durch Abwertung anderer ein positives Selbstwertgefühl. Als reflektierte Fachkraft mit einem individuellen Verständnis von Junge-Sein können Sie Jungen in ihrer Selbstachtung unterstützen.

Als wichtige Ziele sollten auch gewaltfreie Konfliktlösungs- und Kommunikationsstrategien entwickelt und umgesetzt sowie Gleichberechtigung der Geschlechter und Formen des geschlechterdemokratischen Umgangs und Zusammenlebens als selbstverständlich gesehen werden.

Viele Beiträge auf meinTestgelände setzen sich mit dem Begriff „Männlichkeit“ auseinander und eignen sich ausgezeichnet dafür, mit jungen Menschen darüber zu sprechen, welche Gedanken sie zum Thema „Männlichkeit“ haben und inwieweit ein fixes Bild von Männlichkeit zu sehr in einer emotionalen und gesellschaftlichen Sackgasse enden kann.

Zum Weiterlesen und Vertiefen:

Connell, Raewyn (2014): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Springer VS, Wiesbaden. 4.Auflage

Schmale, Wolfgang (2003): Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450-2000). Böhlau Verlag, Wien.