Transidentität – Wovon reden wir eigentlich?

Geschlechtsidentität, Transidentität, Travestie und Cross Dressing – was zusammen gehört und was nichts miteinander zu tun hat

Schon wieder ein neuer Begriff? Was bedeutet „Transidentität“ eigentlich? Heißt das nicht „Transsexualität“? Jedenfalls ranken sich viele Missverständnisse um diesen Begriff und darum, was Transidentität eigentlich ist: ging es da nicht um Schwule, die sich dafür fürchten, „ihren Mann zu stehen“? Ging es da nicht um so schillernde Figuren wie Mary und Gordy, die in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts Frauen nachamten – in meist ausverkauften Häusern und vor begeistertem Publikum selbstverständlich. Und wer erinnert sich nicht an den Film „Priscilla – Königin er Wüste“ aus den 90ern? Oder an Olivia Jones, die selbst im RTL Dschungelcamp ihr weibliche (Ver)kleidung nicht aufgab? Doch geht es hier wirklich um Transidentität? Nein, geht es nicht.

Was „Transidentität“ nicht bedeutet:

Wenn wir von Transidentität sprechen, meinen wir

  • weder Travestie. Das ist eine Kunstform, bei der Männer auf oft prononcierte Weise Frauen imitieren. Sie spielen mit Geschlechtsrollenklischees – und streifen die selbst kreierte weibliche Kunstfigur am Ende der Vorstellung wieder ab. Mary und Gordy und viele andere, die uns auf den Bühnen von Travestietheatern den Spiegel vorhalten, waren bzw. sind Travestiekünstler*innen.
  • noch Cross Dressing. Hier geht es um das mehr oder weniger spielerische Erproben von Rollen des jeweils anderen Geschlechts, was das Tragen von „männlicher“ bzw. „weiblicher“ Kleidung einschließt.

Und wenn ein Mädchen sich für Mathematik interessiert und Fußball spielt oder ein Junge lieber tanzt (um beim Klischee zu bleiben), sind sie bzw. er noch lange nicht transident. 

Mit Homo- oder Bisexualität hat Transidentität auch nichts zu tun. Diese Begriffe bezeichnen – wie auch Hetero- Pan- oder Asexualität Varianten der erotischen und/oder sexuellen Anziehung.

Auch um „fehlgeleitete“ Energien oder Hormone in der fötalen Entwicklung geht es beim Begriff „Transidentität“ nicht (Danach wird gern gesucht).

Exkurs Intergeschlechtlichkeit

Die biologischen Anlagen in Bezug auf das Geschlecht sind vielfältig und eben nicht so eindeutig, wie die meisten von uns in der Schule gelernt haben. Das Zusammenwirken von Chromosomen und Hormonen, die Entwicklung der Keimdrüsen und der (weiteren) primären und sekundären Geschlechtsmerkmale unterliegt einer großen Varianz. Menschen, deren primäre oder sekundäre Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig als „weiblich“ oder „männlich“ zugeordnet werden können (bei der Geburt oder oft auch erst im Laufe der weiteren Entwicklung) werden als „intergeschlechtlich“ bezeichnet. Selbstverständlich geht es auch hier nicht um richtig oder falsch, gesund, krank oder gar „fehlgeleitet“.

Das dies in Gesellschaft, Medizin und Recht über lange Zeit so gedeutet wurde (und nicht selten auch noch wird), hat viel Leid für intergeschlechtliche Menschen gebracht und bringt es noch.  Eltern wurden massiv verunsichert und zu „geschlechtsvereindeutigenden“ Operationen an ihren Kindern gedrängt. In der Folge wurden Babys, Kleinkinder und Jugendliche zwangsoperiert, um ihr
geschlechtsbezogenes Erscheinungsbildung in Richtung „männlich“ oder
(meist) „weiblich zu verändern – i.d.R. ohne, dass sie davon wussten,
geschweige denn über die Folgen aufgeklärt wurden oder gar zustimmen
konnten. Die Folgen für die Betroffen waren und sind oft verheerend.

Seit Dezember 2018 können Eltern eines neugeborenen Babys den
Geschlechtseintrag „divers“ wählen oder auf einen Geschlechtseintrag
verzichten.

Weitere Informationen zu den Lebenslagen intergeschlechtlicher Menschen erhalten Sie in den entsprechenden Beiträgen hier bzw. auf meinTestgelaende.de.

 

Was „Transidentität“ bedeutet:

Demgegenüber bezeichnet Transidentität die Dimension des Selbstgefühls bzw. der Selbstzuordnung: Wer bin ich? Welches Geschlecht empfinde ich stimmig als das meine?

Es geht um das Selbstempfinden als Geschlechtswesen. Ob dieses Selbstempfinden Aspekt einer „vordialogischen“ Kernidentität ist oder ob es – in welchem Maße – Ergebnis des Zusammenspiels von biologischer (einerseits) und psychischer Anlage (andererseits) und Beziehungsdynamik (vgl. u.a. Bowlbys Bindungstheorie) ist, ist wissenschaftlich nicht erwiesen.

Viel bedeutsamer als die Frage nach Ursachen ist die Anerkennung der Realität geschlechtlicher Vielfalt, die sich in unterschiedlichen Aspekten/Dimensionen zeigt. 

Der Verweis auf „Dimensionen“ der Geschlechtsidentität und die Anführungszeichen weiter oben im Text machen es nochmal deutlich: „Männlich“ und „weiblich“ halten wir nicht für klar definierbare und deutlich voneinander abgrenzbare Kategorien, denen jeder Mensch (jedes Lebewesen) eineindeutig zuordenbar wäre. 

Untersuchungen in Biologie, Medizin, Soziologie, Psychologie, Ethnografie und angrenzenden Natur- und Humanwissenschaften belegen: Geschlecht ist nie eindeutig. Sowohl hinsichtlich des biologischen Geschlechts als auch in der Kombination aller Dimensionen sind wir Menschen äußerst vielfältig. 

Folgende Grafik verdeutlicht den Zusammenhang der einzelnen Dimensionen mit der Geschlechtsidentität eines Menschen:

Dabei sind die verschiedenen Dimensionen nicht ursächlich miteinander verbunden. Sie beeinflussen allerdings wechselseitig die konkrete Lebenssituation eines Menschen. Das wird z.B. darin deutlich, dass transidente Menschen häufig von Geringschätzung und Ausgrenzung betroffen sind, weil sie den gängigen Geschlechtsrollenerwartungen (soziales Geschlecht) nicht entsprechen (siehe Baustein 2).

Auch die Selbstzuordnung als homo- oder heterosexuell kann sich ändern, wenn ein*e Jugendliche*r erkennt: Ich bin kein lesbisches Mädchen, sondern ein trans*Junge, der auf Mädchen steht. 

trans, trans* oder cis?

Erwähnt werden sollte noch, dass die Silbe „trans“ „im Übergang oder „jenseits“ bedeutet, wohingegen „cis“ mit „diesseits“ übersetzt werden kann. Der * soll auf die Vielfalt hinweisen. Keine zwei Menschen haben genau die gleiche Geschlechtsidentität. Und zwischen männlich und weiblich besteht ein Kontinuum unendlicher Möglichkeiten. 

Ein Mann, der aufgrund der sichtbaren körperlichen Merkmale bei seiner Geburt als Junge wahrgenommen und dem männlichen Geschlecht zugeordnet wurde, und der diese Zuordnung für sich als stimmig empfindet, wird als „Cis-Mann“ bezeichnet. Wenn derselbe Mensch sich jedoch in der Zuordnung zum männlichen Geschlecht fehl am Platz fühlt und sich viel eher bei den Mädchen/Frauen sieht, bezeichnet er (dieser Mensch) sich als „Transfrau“ (im Übergang zur Frau), trans* Frau (Betonung der Vielfalt) oder als Frau. Dabei ist die Selbstbezeichnung entscheidend: 

Ist es jemandem wichtig, die Transidentität und somit auch das eigene Herkommen vom als fremd erlebten biologischen Geburtsgeschlecht sichtbar zu machen? Oder geht es ihm*/ihr* eher darum, (endlich) als gleichwertiges und -berechtigtes Mitglied des Wunschgeschlechts gesehen zu werden?  

Methode zur pädagogischen Arbeit mit den Geschlechterdimensionen

Auch zu Beginn der Arbeit mit Jugendlichen ist es sinnvoll, die grundlegenden Begriffe zu klären. Dafür können Sie auf einem großen Streifen Packpapier oder einem Flipchartbogen einen menschlichen Umriss zeichnen. Dann sammeln Sie auf Zuruf alle Begriffe, die die Jugendlichen mit Geschlecht und Geschlechtsidentität verbinden (z.B. jeweils einzeln auf Moderationskarten). Zusammenfassend erläutern Sie die vier Dimensionen der Geschlechtsidentität. Diese ordnen sie dann jeweils gemeinsam den vier Dimensionen

  • psychisches Geschlecht
  • sexuelle bzw. romantische Orientierung
  • Geschlechtsausdruck, Rollenerwartungen und -handeln – Soziales Geschlecht 
  • und biologisches Geschlecht 

zu. Wichtig ist, dass die Jugendlichen jeweils begründen, warum sie welchen Begriff welcher Dimension zugeordnet haben bzw. zuordnen würden. Abschließend diskutieren Sie mit den Jugendlichen, ob noch wichtige Begriffe fehlen und wie diese ggf. den vier Dimensionen zuzuordnen wären (z.B. Heterosexualität als Pendant zu Homosexualität oder Cis- als Gegenüber zu Transidentität).

Mit dieser Methode erfahren Jugendliche, dass Geschlechtsidentität viele Ebenen hat und sehr vielfältig sein kann auf allen Ebenen.

 1 Grimm (2020b) – Grimm, Sabine: „These kids are all right.“ Vortragsmanuskript und Workshopunterlagen zur Frage „Wie können Pädagog*innen transidente Kinder und Jugendliche unterstützen?“. Oktober 2020

 2 Sich verlieben und jemanden auch sexuell begehren ist unabhängig von dessen Geschlecht.

3  Asexuelle Menschen empfinden gegenüber anderen Menschen kein sexuelles Begehren.