Wer ist hier das Problem? Über Auftrag und Zielgruppe der Sozialen Arbeit

Warum Soziale Arbeit gesellschaftsgerichtet wirken muss anstatt individualisierend

Soziale Arbeit richtet sich traditionell an Menschen, die Bedarf nach (sozialer) Hilfe haben. Oft passiert das im allgemeinen Verständnis, dies sei der zentrale Auftrag Sozialer Arbeit: Sozialarbeiter*innen würden demnach Menschen helfen, ‚die Probleme hätten‘. Probleme haben? Suggeriert das nicht, die Adressat*innen der Sozialen Arbeit seien sozusagen die ‚Eigentümer*innen‘ ihrer (vermeintlich) individuellen Probleme? 

Soziale Arbeit aber ist ebenso eine gesellschaftsgerichtete Profession. Ziel Sozialer Arbeit ist, „gesellschaftliche […], soziale Entwicklungen und den sozialen Zusammenhalt sowie die Stärkung der […] Selbstbestimmung […] von Menschen [zu fördern]“.1 Im Gegensatz dazu stellen Anhorn und Balzereit jedoch eine Personalisierung, Psychologisierung und Therapeutisierung der Sozialen Arbeit fest, für die sie folgende Gründe sehen: 

  • Die Vorstellung von ‚Macht‘ wird in der Sozialen Arbeit auf eine einseitig ausgeübte Unterdrückung reduziert. Adressat*innen müssten demnach vor Macht geschützt werden, können aber angeblich keine erlangen. 
  • Gesellschaftliche Konfliktverhältnisse werden mit der Rede von sogenannten sozialen Problemen individualisiert. Auf diese Weise kann Soziale Arbeit öffentlich Probleme thematisieren und das eigene Tätigwerden legitimieren – ohne hierzu jedoch gesellschaftlich in Konflikt zu treten. 
  • Die Einzelfallorientierung und die Idee von Sozialer Arbeit als „neutrale Vermittlerin zwischen Individuum und Gesellschaft“ sind professionsgeschichtlich dominant.2 Der Impuls, den Gegenstand Sozialer Arbeit zu individualisieren, ist tatsächlich stark; nicht immer folgt er der Absicht, gesellschaftliche Konfliktherde zu umgehen oder die Beschäftigung mit (eigener) Macht zu scheuen. Oft schlagen sich gesellschaftsstrukturelle Ungleichheiten ja erst an den Einzelnen am Greifbarsten nieder und erhalten hier einen (alltagsweltlichen) Ausdruck, der berührt und innerlich mobilisiert. Sozialstrukturanalysen entzünden in der Regel keine persönliche Resonanz, Biographien, Lebenssituationen oder gar Schicksale wohl. Gleichzeitig zeigt sich an der Entwicklung bspw. feministischer Mädchenarbeit, die sich von Anbeginn als das Individuum und die gesellschaftlichen Verhältnisse adressierend verstanden hat, dass genau diese politische Orientierung einen der größten Widerstände hervorgerufen hat, diesen Ansatz als Teil Sozialer Arbeit anzuerkennen.

Führen mehr Rollenbilder und Identitäten zu weniger Ausschlüssen? 

Diese starke Konstruktion der Adressat*innenzielgruppe, der ausgewiesenen Problemträger*innen, ist Teil einer gegenwartsbezogenen Anpassungskrise Sozialer Arbeit. Unsere Gegenwart erlaubt diese Einteilung nämlich immer weniger. Die gesellschaftliche Gegenwart lässt sich als ‚Postmoderne‘ bezeichnen, kurzgesagt: In der Epoche der Moderne, die herkömmliche Rollen definierte (etwa die Hausfrau und der Alleinverdiener) lag die Aufgabe Sozialer Arbeit noch eindeutiger in der exklusionsverwaltenden3 Armutshilfe. Zum Beispiel war eine verwitwete Frau in der Moderne in der Armut gefangen, eine Integration in Arbeit war gesellschaftlich nicht vorgesehen. In der Postmoderne wiederum zeigen sich eine Vervielfältigung und Singularisierung4 von Identitäts- und Rollenbildungen. Die vorgenannten Rollen gibt es derweil in der Postmoderne weiterhin, sie nehmen aber eine andere Dynamik an und unterliegen komplexen intersektionalen Aushandlungs- und Zuschreibungsprozessen, die sich jedoch in vielfältiger Weise machtasymmetrisch vollziehen: 

„So charakterisieren […] [etwa Alleinerziehende] den Druck, unter dem ihre Situation in der aktuellen Gegenwart steht, als ein Gerecht-werden-müssen […] gesellschaftlich an sie gerichteter, teils gegensätzlicher Erwartungen zwischen u. a. Karriere, Familiengründung und Erziehung, Selbstverwirklichung und Individualisierung“.5

In der Postmoderne mit ihren sich diversifizierenden Identitäten und der Zersplitterung tradierter Rollenbilder lösen sich also mitnichten Machtprozesse und soziale Ausschlüsse auf. Vielmehr erzeugt doch jede neue Identitäts- und Gruppenbildung gleichsam das Potenzial, aus sozialen Bezügen rauszufallen und nicht dazuzugehören. Das zeigt sich bspw. aktuell an der Ausdifferenzierung von Geschlechtern: Die Anerkennung vieler Geschlechter, vieler Orientierungen und Inszenierungen von Geschlecht oder auch sexueller Orientierungen führt nicht dazu, dass Geschlecht weniger als hierarchisierender gesellschaftlicher Platzanweiser wirkt. Sondern dazu, dass sich lediglich die „Gruppen“ vermehren, die gegen ihre Ausgrenzung kämpfen müssen. 

Sozialer Arbeit als gesellschaftsgerichtete Profession(?)!

Einer solchen postmodernen Gesellschaft, die durch sich-zerteilende Identitäten charakterisiert ist, sieht sich Soziale Arbeit gegenwärtig – und zukünftig noch verstärkt – gegenüber, nein sie ist Teil davon. Nicht nur einzelne Adressat*innengruppen sind die wenigen ‚Rausgefallenen‘ gegenüber einer ansonsten stabilen Gesellschaft.6 Vielmehr weist die Gesellschaft insgesamt zunehmend Unterstützungsbedarf dabei auf, mit sich selbst klarzukommen und bei all ihrer Diversifizierung weiterhin sozialen Zusammenhalt und Sozialität auszubilden und das „Zusammenleben in kultureller Melange zu gestalten“.7 

Aus dem allein problempersonalisierenden Verständnis Sozialer Arbeit heraus wird die Perspektive verbaut, Soziale Arbeit als gesellschaftsgerichtete Profession weiterzuentwickeln. Gerade im Angesicht der Ausdifferenzierung von Menschen in einer Gesellschaft, die auch deshalb weiter auseinanderzufallen droht, muss Soziale Arbeit sich ihres Selbstverständnisses als Profession erinnern; deren Auftrag auch ist, Gesellschaft in Bezug auf Gerechtigkeit weiterzuentwickeln. Ansonsten sind Mädchen*, Frauen* trans*, agender, inter* oder enby einfach weitere Personengruppen, die auch trotz Hilfe Sozialer Arbeit Ausgrenzung erleben. 


1  Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit e. V.; Fachbereichstag Soziale Arbeit (2016): Deutschsprachige Definition Sozialer Arbeit. Online verfügbar unter: www.ifsw.org/wp-content/uploads/2019/07/20161114_Dt_Def_Sozialer_Arbeit_FBTS_DBSH_01.pdf, zuletzt geprüft am 10.11.2022, hier genutzt: S. 2.

2 Anhorn, Roland; Balzereit, Marcus (2016): Die »Arbeit am Sozialen« als »Arbeit am Selbst« – Herrschaft, Soziale Arbeit und die therapeutische Regierungsweise im Neo-Liberalismus: Einführende Skizzierung eines Theorie- und Forschungsprogramms, in: Anhorn, Roland; Balzereit, Marcus (Hrsg.). Handbuch Therapeutisierung und Soziale Arbeit. Wiesbaden: Springer VS (Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit), S. 3-203; hier genutzt: S. 177-182.

3 Bommes, Michael; Scherr, Albert (1996): Soziale Arbeit als Exklusionsvermeidung, Inklusionsvermittlung und/oder Exklusionsverwaltung. In: Neue Praxis 26 (2), S. 107-122.

4 Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp

5 Heckes, Kolja (im Erscheinen): Lehrreiche Netzwerke und lernende Organisationen: Alleinerziehende aus der Perspektive von Netzwerkentwicklung, in: Wernberger, Angela. Alleinerziehende und Soziale Arbeit.

6 Scheu, Bringfriede; Autrata, Otger (2018): Das Soziale. Gegenstand der Sozialen Arbeit. Wiesbaden: Springer VS (Forschung, Innovation und Soziale Arbeit).

7 Beck, Ulrich (2004): Der kosmopolitische Blick. Oder: Krieg ist Frieden. Frankfurt am Main: Suhrkamp, hier genutzt: S. 10.