Klischees sind unter Jugendlichen weiterhin verbreitet – aber: Es gibt Hoffnung. Warum, berichtet Maya Götz mit Blick auf ihre Forschung.
„Ein Beruf, in dem Technik erfunden und eingesetzt wird, ist für Mädchen nicht interessant!“ Sechs von zehn Jugendlichen vor dem Abitur lehnen die Aussage ab, 30 % von ihnen sogar vehement. Geschlechterklischees in der Berufswahl, so die Vorstellung der Jugendlichen, sind schon längst überholt. Leider sieht die Realität anders aus. Eine Repräsentativstudie des IZI1 zeigt: Mädchen drängt es in die sozialen Bereiche, Gesundheit und Medizin, Jungen in Informatik, Technik und IT. Wie immer gilt das nicht für alle Studiengänge und Studienanfänger*innen, doch die Tendenz ist deutlich, besonders im Studiengang Elektro-/Informationstechnik. Der Frauenanteil ist dort mit 16 % Erstsemestereinschreibungen von Frauen (2020) am geringsten im MINT-Bereich.
Genau hier sind Frauen jedoch gesellschaftlich ausgesprochen wichtig, denn Elektroingenieur*innen sind diejenigen, die in einer zunehmend digitalisierten Welt die Energiewende, die Umstellung auf Industrie 4.0 und Elektromobilität etc. erdenken und umsetzen können. Entsprechend ist es nicht nur ein Anliegen von Gleichstellung, sondern auch von gesellschaftlicher Notwendigkeit, hier der Frage nachzugehen, warum junge Frauen vor dem hochschulqualifizierenden Abschluss trotz Begabung und Spaß an Mathematik und Physik ein Studium der E-Technik nicht einmal in Erwägung ziehen.
Eine Kooperationsstudie von VDE2, FBTEI3 und FTEI4 gemeinsam mit dem IZI widmete sich dieser Frage. Neben der Befragung von Studierenden und Studienabbrecher*innen wurden 50 Fallstudien von Jugendlichen mit (sehr) guten Noten in Mathematik und Physik (Studie 1) erhoben und die Ergebnisse anhand eines Panels von 658 Jugendlichen vor dem hochschulqualifizierenden Abschluss (Studie 2) überprüft. Die Studienreihe ist dabei so angelegt, dass auch mögliche Lösungsansätze getestet wurden.
Das falsche Bild der Arbeitswelt eines Elektroingenieurs/einer Elektroingenieurin
Jungen und Mädchen mit (sehr) guten Noten in Mathematik und Physik (Studie 1) haben kaum eine Vorstellung vom Studium oder Berufsfeld von Elektroingenieur*innen. Werden sie – wie in dieser Studienreihe – danach gefragt, rekonstruieren sie ein inneres Bild anhand des Wortes „Elektro“ und dessen, was an „Elektro“ im Alltag erlebt wird (z.B. Stromanschlüsse, Kabel, Weihnachtsbeleuchtung etc.). Es entsteht ein unattraktives Berufsbild, das vor allem durch Erstellen, Warten und Kontrollieren geprägt ist. Ein kreatives Arbeiten an den großen Herausforderungen unserer Zeit sehen die befragten Jugendlichen nicht. Die klischeebehaftete Vorstellung: Elektroingenieur*innen arbeiten weitestgehend ohne sozialen Kontakt, sondern ausschließlich mit elektrischen Geräten und folgen Anweisungen zum einfachen Reparieren oder Verkabeln.
Im Geschlechtervergleich haben die befragten Mädchen eine noch begrenztere Vorstellung als die befragten Jungen. Deutlich wird zudem, u.a. an den Collagen der Mädchen, dass sie von einem männerdominierten Beruf ausgehen, was sie ungestützt auch so artikulieren. Werden sie direkt darauf angesprochen, beschreiben die meisten von ihnen ihre Bedenken gegenüber dem Berufsfeld (s.u.), einige der befragten Mädchen betonen aber auch, dass es bei der Berufswahl keine Geschlechterstereotype gäbe. Auch Jungen sehen das Berufsfeld ungestützt als Männerberuf. Werden sie explizit gefragt, verneinen sie dies jedoch häufig.
Die Vorstellung, dass Elektroingenieurinnen in der Arbeitswelt „niedergemacht“ werden
Begründen die befragten Mädchen, warum sie sich keine Zukunft im Bereich Elektrotechnik vorstellen können, formulieren sie wiederkehrende Stereotype. Dadurch, dass mehr Männer diesen Beruf ausüben, liegt für einige Mädchen der Gedanke nahe, dass sie in der Branche nicht ernst genommen werden. 70 % der Mädchen der repräsentativen Stichprobe stimmen dieser Annahme zu. Der Steigerung dieser Vorannahme, dass Frauen in dem Bereich ständig niedergemacht werden, stimmen 69 % zu. Zudem trauen sich viele Mädchen den Studiengang nicht zu und erzählen, ihre Peergroup oder Familie würde sich sehr wundern, wenn sie in diese berufliche Richtung gehen würden (76 % Zustimmung). Es zeigt sich eine ganze Bandbreite an Klischees und Stereotypen, die Mädchen davon abhält, auch nur darüber nachzudenken, in den Bereich zu gehen.
Was tun?
Barrieren abbauen und innere Bilder verändern
Die Erkenntnisse aus der Befragung von Jugendlichen vor dem hochschulqualifizierenden Abschluss brachten bekannte Klischees hervor, die sich hier aber für den Bereich der Elektrotechnik noch einmal weiter ausdifferenzieren. Ziel der Studienreihe ist aber auch, Möglichkeiten zu finden, die Situation zu ändern. Entsprechend wurde (aus den Ergebnissen von Studie 1) eine Kampagne für eine Social-Media-Plattform wie Instagram entwickelt und an der repräsentativen Stichprobe (Studie 2) getestet.
Inhaltlich fokussiert die Kampagne drei Bereiche des Berufs des Elektroingenieurs/der Elektroingenieurin:
1. den erfinderischen und entwickelnden Teil des Arbeitsfeldes (Claim: „Zukunft denken, Zukunft entwickeln“),
2. den Bereich der Teamarbeit und des gemeinsamen Problemlösens (Claim: „Gemeinsam die Zukunft gestalten“) und
3. das Erfinden und Arbeiten mit neuen Technologien (Claim: „Zukunftstechnologien entwickeln“).
Bildlich wurden junge Menschen gezeigt, die freudvoll im Team arbeiten. Der Test der 12 Kampagnenbilder zeigt u.a. Präferenzen zu Bildern mit Frauen, die mit Technik agieren (bei Mädchen und Jungen). Der Vorher-Nachher-Test zeigte zudem, dass sich durch das Anschauen der Posts bei einigen Befragten die klischeehaften Berufsvorstellungen verändern. Nach dem Ansehen und Beurteilen der Bilder steigt der Anteil von Jugendlichen, die wissen, dass Elektrotechnik mit dem „Entwickeln neuer zukunftsfähiger Technologien“ zu tun hat , von 2 % auf 31 %. Entsprechend schafft diese andere Form der Visualisierung des Studiums bzw. Berufsfeldes der Elektrotechnik mehr Offenheit für dieses Feld.
Räume für die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Reflexion schaffen
Wie Jugendliche zu ihrer Berufsperspektive kommen und an welchen Berufsberatungsaktionen sie teilgenommen haben, wurde zunächst qualitativ (Studie 1) und anschließend quantitativ (Studie 2) abgefragt. Eine aus geschlechterspezifischer Perspektive bedeutsame Erfahrung war hier der Girls’ Day bzw. Boys‘ Day. Die Hälfte aller Mädchen und knapp vier von zehn Jungen vor dem hochschulqualifizierenden Abschluss haben schon an einem Girls‘ Day bzw. Boys‘ Day teilgenommen. Davon hat wiederum rund die Hälfte an einem Aktionstag teilgenommen, die anderen an mehreren. Das Feedback für den Tag: Neun von zehn Schüler*innen hat er Spaß gemacht und sie würden ihn anderen weiterempfehlen. Bei vier von zehn befragten Jugendlichen hat die Aktion die Berufswahl entscheidend geprägt.
Gleichzeitig hat der eindeutige Erfolg des Girls‘ Day in den letzten Jahren nicht zu einem deutlichen Anstieg der Einschreibungen im Fach Elektrotechnik geführt. Entsprechend wurde aus den Erkenntnissen von Studie 1 und 2 ein Girls’ Day entwickelt, der noch gezielter auf die Momente eingeht, die Mädchen von einem Studium der Elektrotechnik abhält:
Eingeleitet wurde der Vormittag mit einer kurzen unterhaltsamen Keynote, die u.a. Begriffe wie Gender und Doing Gender einführte und zentrale Problembereiche der Sozialisation von Mädchen aufzeigte. Anschließend durchliefen die 40 Mädchen vier Stationen. Sie löteten ein Radio, lernten die Grundprinzipen von Solarthermie und Photovoltaik kennen und stellten Mandelmilch und veganen Käse her. Bei den Stationen wurde besonders darauf geachtet, dass die Mädchen selbst handelten und sich als handlungsfähig erlebten. Drei Studentinnen der Elektrotechnik sowie eine Informatikerin erzählten „wie nebenbei“, warum sie sich für diesen diese Studienrichtung entschieden haben. Bei der vierten Station bekamen die Mädchen die Chance zur Reflexion und fanden in einem Poetry-Slam-Workshop mit Teresa Reichl die Möglichkeit, ihr eigenes Doing Gender und ihre Berufserwartungen zu reflektieren.
In der Abschlussveranstaltung trug, wer wollte, die eigenen Worte vor. Die Klarheit und kritische Auseinandersetzung der 13- bis 16-Jährigen mit Geschlechterklischees war beeindruckend. Noch deutlicher zeigte sich die Veränderung in der Vorher-Nachher-Evaluation. Konnten es sich vor dem Girls‘ Day nur 18 % ein bisschen vorstellen, Elektrotechnik zu studieren, war es danach fast die Hälfte. Die Kombination aus praktischer Erfahrung von Selbstwirksamkeit durch Technik und Reflexionsraum über Geschlechterkonstruktionen brach viele bestehende Klischees auf. Auf die Frage, was sie sich aus dem Tag mitgenommen haben, schrieb zum Beispiel Sophia, 14 Jahre: „Dass ich mehr Möglichkeiten habe, als ich dachte“. Und das ist doch schon mal ein guter Anfang.
1 Internationales Zentralinstitut für das Jugend- und Bildungsfernsehen beim Bayerischen Rundfunk
2 Verband der Elektrotechnik – Elektronik – Informationstechnik e.V.
3 Fachbereichstag Elektrotechnik und Informationstechnik e.V.
4 Fakultätentag für Elektrotechnik und Informationstechnik e.V.