Warum der Gender Care Gap schon in der Kindheit beginnt: Ein Interview zum Buch „Equal Care“

Almut Schnerring und Sascha Verlan, Gründer*innen der Initiative Equal Care, über die politische Dimension der routinierten Verteilung von Sorgearbeit.

25.10.2023 | Lesezeit: 5 Min.

Almut und Sascha: Aus welcher Perspektive habt ihr Euer Buch geschrieben?

Wir schreiben zunächst als Tochter, als Sohn und Bruder unserer Herkunftsfamilien, als Verwandte. Denn Care ist ja immer eine Beziehung zwischen Menschen. Care-Arbeit ist die Basis für jedes Leben und für das gesellschaftliche Miteinander. Und deshalb ist Equal Care die notwendige Voraussetzung für ein gleichberechtigtes Zusammenleben. Wir empfangen und wir leisten Sorgearbeit, sind auf unterschiedliche Weise immer Betroffene.
Wir schreiben auch als Mutter und Vater, als Eltern von drei gemeinsamen Kindern, als Mann und Frau, als Paar, das in einer Lebens- und (Erwerbs-)Arbeitsgemeinschaft lebt, als Bekannte, Nachbar*innen und Freund*innen.
Und wir schreiben als Gründer*innen der Initiative Equal Care und des ‚Equal Care Day – Aktionstag für mehr Wertschätzung, Sichtbarkeit und eine faire Verteilung der Sorgearbeit‘, als Autor*innen und Aktivist*innen, die politisiert wurden durch den Missstand des Care Gap und die erschreckenden Tatsachen, dass tatsächlich erst seit ein paar wenigen Jahren in einer breiteren Öffentlichkeit über eine faire Verteilung und Wertschätzung der Sorgearbeit debattiert wird und dass wir von echten Lösungsideen und Konzepten noch so weit entfernt sind.

Gleichstellungspolitiken der vergangenen 50 Jahren haben sich maßgeblich auf Bildung und den Erwerbssektor konzentriert. Was denkt ihr, warum dagegen der Care-Bereich so wenig einbezogen wurde?

Die Hoffnung der institutionalisierten Gleichstellungspolitik seit Käte Strobel (SPD) 1969 bestand ja darin, Frauen durch höhere Bildungsabschlüsse und in der Folge bessere Berufschancen aus der Abhängigkeit von ihren Vätern und Ehemännern zu befreien und damit auch die strengen Rollenbilder der 1960er Jahre zu überwinden. Es müssten nur endlich mehr Frauen in den Führungspositionen ankommen, damit der Wandel an Dynamik gewinnt, hieß es. Trotz aller Erfolge hat sich diese Hoffnung nicht erfüllt. „Das bisschen Haushalt“ macht sich nicht von alleine oder nebenher. Und weil der Fokus all die Jahrzehnte auf der Erwerbstätigkeit blieb, änderte sich auch nichts an der ungleichen und ungerechten Aufgabenverteilung in den Familien.

Care-Arbeit wird auch in der Gleichstellungspolitik als unwichtig und wirtschaftlich wie gesellschaftlich nachrangig erachtet, zuerst kommt die sogenannte produktive Wirtschaft, das Erwerbsleben. Und diese Haltung und Normalität lässt sich im Erwachsenenleben nur noch schwer durchbrechen. Deshalb setzen wir den Fokus auf Kindheit und frühe Bildung. Das gesellschaftliche Ziel muss sein, dass die Schere der Ungleichverteilung gar nicht erst aufgeht. Bisher tut sie das aber: Mädchen werden sehr viel stärker und selbstverständlicher in die alltägliche Familienarbeit einbezogen und übernehmen schon viel früher Verantwortung als ihre Brüder. Das zieht sich dann durch die weitere Sozialisation, bis wir beim Gender Care Gap in der Erwachsenenwelt landen, der letztlich ein erlernter Zustand ist.

Eine zentrale These der Frauenbewegung war: „Das Private ist politisch!“. Warum aber haben es die Schieflagen in der Care-Arbeit trotzdem nicht in den Fokus von Gleichstellungspolitiken geschafft?

Ja, „das Private ist politisch“, aber Sorgearbeit ist eben privater. Tatsächlich ist die Ansicht verbreitet, gerade auch in der Gleichstellungspolitik, dass sich Unternehmen und der Staat nicht in die privaten Angelegenheiten von Paaren und Familien einmischen dürften. Das ist einigermaßen seltsam, weil sie das ja offenkundig in ganz vielen Bereichen und Aspekten des alltäglichen Lebens tun, sei es nun Werbung (im öffentlichen Raum), Vorratsdatenspeicherung, Big Data oder die Forderung nach örtlicher und zeitlicher Flexibilität bis hin zur ständigen Verfügbarkeit im Beruf. Warum also nicht auch im Sorgebereich?
Letztlich geht es um Machtfragen.

Eine wirklich angemessene ideelle wie finanzielle Wertschätzung und eine faire Verteilung der Sorgearbeit würde die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in einer Weise verändern, die durchaus Angst machen kann.

Wir alle, aber insbesondere beruflich erfolgreiche Männer , müssten uns eingestehen, wie abhängig wir eigentlich sind. Unternehmen und auch die Politik müssten anerkennen, dass ihr bisheriges Handeln auf der Ausbeutung von Care-Tätigen basiert. Das sind schmerzhafte Einsichten, die momentan eben durch die Gewohnheit und den Anschein von Normalität überdeckt werden.
Da hilft es auch nicht zu betonen, dass wir alle von einem solchen Systemwandel profitieren würden: mehr Zeit, mehr Lebensqualität, Beziehungen auf Augenhöhe, Verständnis, ein gesünderes, in vielen Fällen auch zufriedeneres Leben.

Könnt ihr kurz eure zentralen Thesen beschreiben?

Um unser aktuelles Wirtschaftssystem einmal plakativ zusammenzufassen: Zeit ist Geld, und Geld regiert die Welt, auch wenn uns das nicht gefallen mag. Und wer Sorgeverantwortung übernimmt, übernehmen muss, hat nun einmal weniger frei verfügbare Zeit und damit weniger Möglichkeiten und Ressourcen: für die eigene Aus- und Fortbildung, für den Aufbau beruflicher Netzwerke, aber eben auch für Erholung, Ausgleich und Muße, neue Ideen und Projekte. Und diese Ungleichverteilung von Sorgeverantwortung und Zeitsouveränität wird nicht erst im Erwachsenenalter spürbar, sie beginnt eben in frühester Kindheit, zieht sich durch die weitere Sozialisation und wird schließlich zur gewohnten Routine, die sich nur noch schwer durchbrechen lässt.
Das größte Hemmnis auf dem Weg in eine gleichberechtigte Gesellschaft ist nicht die gläserne Decke und damit die fehlende Repräsentation von Frauen in den Führungsetagen von Politik und Wirtschaft, von Wissenschaft und Kultur, auch nicht die ungleiche Bezahlung. Das sind alles Folgeerscheinungen der einen zentralen Ungerechtigkeit, der Verteilung von Sorgearbeit und damit von Zeit. Um es als These zu formulieren: Eine faire Verteilung der Care-Arbeit und Sorgeverantwortung ist die Grundvoraussetzung für eine gleichberechtigte Gesellschaft. Das betrifft nicht nur die Kategorie Geschlecht, sondern auch alle anderen Bereiche gesellschaftlicher Segregation.

Was müsste passieren, damit der Gender Care Gap sich schließt?

Care-Arbeit ist ja nicht per se unsichtbar, sie wird unsichtbar gemacht, mal ganz bewusst mal unbewusst, in und von der Politik, den Unternehmen, Bildungsinstitutionen und letztlich auch von uns selbst. Um das nachhaltig verändern zu können, braucht es zunächst eine klare, ehrliche und radikale Analyse der aktuellen Situation und Ungerechtigkeiten: Wer profitiert eigentlich von den bestehenden Verhältnissen? Und weiter gefragt: Wer reproduziert und verstärkt sie? Aus welchen Gründen, und mit welchem Ziel?

Und dann wird deutlich, dass zum Beispiel die Spielwarenindustrie die Lebensbereiche sehr strikt und zunehmend stereotyp trennt. Da gibt es die pink-rosa Welten rund um Schönheit, Haushalt und Pflege für Mädchen und für die Jungen jene blau-schwarz verpackten Technik-, Kriegs- und Abenteuerwelten. Das setzt sich fort in der Werbung, in Büchern, Filmen und Computerspielen und übrigens auch in Schulbüchern.

Allen Bekundungen in den Lehr- und Bildungsplänen zum Trotz sind Kitas, Schulen und Universitäten noch weit entfernt davon, wirklich geschlechtssensibel zu arbeiten. Da werden dann wie selbstverständlich Mädchen als sogenannte soziale Puffer zwischen die ach so wilden Jungs gesetzt, um diese zu beruhigen.

Kranken- und Pflegekassen, Unternehmen, der Staat, und natürlich auch wir persönlich profitieren von einem System, das Care-Arbeit ausbeutet und als gegebene Ressource sieht: Die Beschäftigung (schwarz?!) von Putz- und Haushaltshilfen (meistens Frauen, allzu oft mit familiärer Migrationsgeschichte) ergibt familienökonomisch (Zeit und Geld) nämlich nur dann Sinn, solange die Löhne und gegebenenfalls Sozialabgaben entsprechend niedrig sind.

Das macht deutlich: Den Gender Care Gap zu schließen, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie beginnt damit, dass wir die frühkindlichen Prägungen in den Fokus nehmen und Sorgearbeit ebenso wie die Vorbereitung auf eine spätere Erwerbstätigkeit als umfassendes Bildungsziel ernst nehmen und etablieren.

Das Buch:

 

Almut Schnerring, Sascha Verlan
Equal Care – Über Fürsorge und Gesellschaft

ISBN: 9783957324276

Foto: Larissa Neubauer

Almut Schnerring und Sascha Verlan sind ein Journalist•innen-, Autor•innen– und Trainer•innen-Team. Sie arbeiten mit Wort und Klang, für Presse, Hörfunk und Internet, für Unternehmen, Verbände und Bildungs-einrichtungen und leben mit drei Kindern in Bonn. 2016 haben sie den Equal Care Day initiiert.

Das Team bietet dialogische Vorträge, teilt Ideen in Workshops und Seminaren, Gemälden und Installationen, Büchern, Artikeln und Radiosendungen. Almut Schnerring und Sascha Verlan freuen sich über den Austausch zu den Themenbereichen Fürsorge, EqualCare & Gesellschaft, zu Sprache, Kommunikation und Rhetorik, zu Geschlechtergerechtigkeit und Rollenvorbildern, zu HipHop und SlamPoetry. Mit ihrem gleichnamigen Buch und Workshopangebot haben sie 2014 den Begriff Rosa-Hellblau-Falle® eingeführt und bloggen darüber auf rosa-hellblau-falle.de. Sie organisieren Preisverleihungen (goldener-zaunpfahl.de) und Aktionstage.