Was bedeuten die Pandemiemaßnahmen für junge Frauen? Wir haben sie gefragt und die erhaltenden Antworten sind auf vielfältige Weise bedrückend.
Ab dem 22. März 2020 stand das Land still: über Monate mussten fast alle zuhause bleiben, möglichst zuhause arbeiten, keine Schule, keine Uni, oftmals keinen Job mehr, die Ausbildungsstelle ausgesetzt. Raus durften die Menschen nur noch alleine oder in sehr eingeschränkten Konstellationen und aus wichtigen Gründen. Freund*innen und Cliquen waren von jetzt auf gleich unerreichbar und junge Menschen in ihren Kernfamilien oder allein zu Hause isoliert. Im Winter 2020 folgte der nächste mehrmonatige Lockdown.
Gerade Gleichaltrigenfreundschaften, wie sie in der Jugendzeit so wichtig sind, die Korrektiv sind, Sicherheit bieten, Raum zum Ausprobieren, Geborgenheit, Solidarität, das Ausleben gemeinsamer Interessen, zusammen lachen und Blödsinn machen – kurz: sich zugehörig zu fühlen, waren von jetzt auf gleich verboten. Junge Menschen waren auf einmal dort fixiert, wo sie in dieser Altersspanne oft aus guten Gründen am seltensten zu finden sind: zu Hause. Entweder reduziert auf die Kernfamilie, von der es sich in diesem Alter eigentlich zu distanzieren gilt um erwachsen zu werden oder isoliert und auf sich selbst geworfen.
Im Frühjahr 2020 haben wir unsere meinTestgelände-Autor*innen eingeladen, uns darüber zu berichten, wie es ihnen unter diesen Bedingungen geht. Die Artikel und Videos, die wir auf meinTestgelaende.de veröffentlicht haben, waren erschreckend: „Leave no one behind“ gilt – so das Resümee – nicht für die Jugend.
Mare: Auf und ab
„Gestern Nacht träumte ich, dass meine beiden Eltern starben. Waise. Dachte ich im Traum. 24 und Waise. Ich wachte weinend auf. Alleine. … Es gehört nicht in meine alltäglichen Gedanken, soll dort nichts zu suchen und doch ist es jetzt ständig da. Genauso wie … das unsichtbare Schwert, das über zu vielen von uns hängt: Risikogruppe.
… Heute Morgen bin ich aufgewacht. Nicht weinend aus einem Albtraum, sondern sanft aus einem erholsamen Schlaf. Es ist schon erstaunlich, wie schnell sich der Mensch umgewöhnen kann, dachte ich, …
Die Situation fühlt sich zwar katastrophal an, aber die Menschheit hat es schon durch viele Katastrophen geschafft. Zeitgleich fühle ich mich schuldig. … Du bist nur gerade hier, weil andere Menschen leiden oder sogar sterben müssen. Denk an die ganzen Menschen, die jetzt ihren Job verlieren, oder die ganzen Menschen, die sich noch infizieren werden.“
https://www.meintestgelaende.de/2020/05/glueck-in-zeiten-von-corona/
Mares Thema ist die Erschütterung durch die vollkommen veränderten Lebensumstände und wie sich Ängste in ihr aufbauen, die sie zwar in die Nacht verdrängen kann, die dann aber in Form von Träumen zurückkommen. Es wird deutlich, dass die Umstände ihr schwer zu schaffen machen und sie versucht, mit der Situation zu dealen und mit all den Gefühlen, die sie bei ihr auslösen. Mare schwankt zwischen Angst, Mut machen und Schuld, die Pandemie hat sie in erster Linie emotional beschäftigt.
Sophia: Psychische Probleme
Sophia hat seit Jahren einen eigenen YouTubekanal (sojadoesrandomstuff https://www.youtube.com/channel/UCIrsqXbtU5nJq0PnJlda-DA) und berichtet darin und auf meinTestgelände (https://www.meintestgelaende.de/author/sophia) aus ihrem Leben und das bedeutet auch immer wieder über ihre psychische Verfasstheit. Deshalb hat sie ein Video produziert zum Thema wie mensch die Selbstisolation erträglich machen kann, insbesondere wenn mensch psychische Probleme hat
- „Versucht so viel Kontakt wie möglich mit euren Freundinnen und eurer Familie zu halten
- geht einmal am Tag irgendwie raus spazieren … die Sonne scheint, es wird Frühling, versucht so viel wie möglich davon aufzunehmen
- nutzt die freie Zeit und tut Dinge, zu denen ihr sonst nicht gekommen seid
- gestaltet den Arbeitsalltag möglichst normal wie immer – keine Pyjamatage, soviel Routinen aufrecht erhalten wie es geht um dem Tag Struktur und dir Stabilität zu geben
- lest keine unseriösen Quellen – wenn euch etwas Angst macht, checkt mit offiziellen Quellen gegen
- falls ihr in medikamentöser Behandlung seid: setzt Antidepressiva nicht zu Hause eigenständig ab
- wenn du gerade nicht zur Psychotherapie gehen kannst: es gibt Onlinetherapieangebote von Therapeut*innen und die Telefonseelsorge
- wenn deine Umgebung, in der du gefangen bist, toxisch ist, es gibt Hilfetelefone – sprecht darüber
- entfolgt Menschen auf Insta, FB etc., die euch nicht gut tun“
Sophia wendet sich in ihrem Video hauptsächlich an junge Menschen, die psychische Probleme haben und versucht Hinweise zu geben, wie die lockdown – Zeit bewältigt werden kann. Dabei spricht sie ein Thema an, das es medial kaum in die Öffentlichkeit schafft: als besonders gefährdet werden Alte und Vorerkrankte (an)erkannt und um besondere Vorsicht geworben, aber junge Menschen mit psychischen Erkrankungen, die Therapie brauchen, Medikamente, andere Menschen, die von Ängsten bedroht sind und die Sicherheit von Freund*innen brauchen oder einen Klinikplatz, hat die Politik nicht auf dem Schirm. Was Sophia hier macht, ist, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, um in dieser Situation der Unterversorgung über die Runden zu kommen. Ihr Beitrag ist damit auch politisch.
Become a feminist
Fee ist feministische Poetry Slamerin und Autorin (https://www.meintestgelaende.de/author/fee/). Deshalb beschäftigt sie sich in ihrem Text auch mit einem gesellschaftspolitischen Blick auf die Pandemiemaßnahmen (https://www.meintestgelaende.de/2020/06/oh-corona). Sie zeigt auf, dass Frauen besonders stark von den Einschränkungen betroffen sind und fokussiert dabei speziell ihre eigene Szene, die Kulturszene:
„Geringes und unsicheres Einkommen, kaum Rücklagen und eine quasi nicht vorhandene Altersvorsorge: All das sind Risiken, auf die man sich einlässt, wenn man sich entscheidet, sein Leben beruflich der Kunst zu widmen. Diese Nachteile treffen aber besonders häufig und oftmals um ein vielfaches heftiger auf weibliche Kunstschaffende zu.“
Ich gehöre auch dazu!
Der nächste Text ist von Birgit Hohnen – einer jungen Frau, die im Rollstuhl sitzt, sprechen, aber nicht schreiben kann, dafür hat sie eine Assistenz (https://www.meintestgelaende.de/2020/06/behinderung-corona). Sie ist seit 2014 Mitglied unserer Redaktionsgruppe story teller, alles junge Menschen mit Handicap/Behinderung und sie schreibt darüber, wie schlimm es für sie ist, dass sie nicht arbeiten kann und zuhause eingesperrt ist ohne Kontakte, wie sie sie braucht:
„Ich könnte heulen. Ich muss immer zu Hause bleiben. Ich will so gerne arbeiten. Weil ich die Struktur und Menschen um mich brauche. Ich will Gesundheit für alle. Ich will wieder arbeiten. Dass man nicht raus kann, ist für mich und die anderen Menschen mit Behinderung nicht einfach. Ich kann nicht raus. Das macht mir Aggressionen.
Was ich mir wünsche? – Man braucht mehr Personal und mehr Beschäftigung für Leute, die nicht alleine rausgehen können. Man muss die besser unterstützen, was unternehmen, spazieren zum Beispiel. Menschen mit Beeinträchtigungen wollen auch was vom Leben haben. Das muss auch finanziert werden. …
Meine Tagesstruktur ist jetzt Fernsehen. Und die Anderen sagen: „Birgit guckt den ganzen Tag Fernsehen oder liegt im Bett.“ Aber was soll ich denn machen? Die Menschen sind beeinträchtig ohne Arbeit. Ich sitze immer nur in meinem Zimmer. Dieses ganze Fernsehen geht mir schon richtig auf den Senkel. Und das blöde Rumsitzen macht mich wütend. …
Ich will, dass man die Leute nicht alleine lässt. Die eine oder andere ist sehr allein, kann nicht raus, und manche können sich gar nicht äußern. Weil sie nicht sprechen können. Ich kann nicht lesen und schreiben, aber ich kann gucken und sprechen, und ich kann meine Meinung diktieren.“
Birgit hat sehr direkt und offen beschrieben, welche großen Einschränkungen der Lockdown für sie als Person mit Einschränkungen hat – eine Personengruppe, die kaum im öffentlichen Fokus war in der Berichterstattung, die aber auch da ist und Aufmerksamkeit und Unterstützung bedarf. Birgit hat sich so unglaublich darauf gefreut, wieder arbeiten zu gehen, aber dann ist sie gestorben. Nicht an Corona sondern während Corona, sie hat ihre Arbeitsstelle nicht wieder gesehen und auch nicht die Menschen dort. Wir haben eine Auswahl ihrer tollsten Texte nochmal veröffentlicht um Birgit zu gedenken (https://www.meintestgelaende.de/2020/08/birgit-hohnen-letzte-texte).
Mann im Homeoffice, Kind zu Hause und eine Zweizimmerwohnung
Unsere Autorin Marie ist jung Mutter geworden und hat einen inzwischen vierjährigen Sohn. Sie lebt mit Freund und Kind in einer Zweizimmerwohnung, der Freund ist normal vollzeitarbeitend aus dem Haus, der Sohn ganztags in der Kita. Dann der Lockdown und nun alle Drei auf Wochen Tag und Nacht in der kleinen Wohnung. Der Sohn darf nicht raus, keine Freund*innen treffen, der Freund braucht einen Arbeitsplatz, an dem er in Ruhe arbeiten kann. Marie beschreibt, wie sie sich im Handumdrehen in einem Geschlechterklassiker wiederfindet (https://www.meintestgelaende.de/2020/04/planlos-ging-der-plan-los):
„Ich hatte einen starken Druck in den ersten Tagen, weil all das über Nacht funktionieren musste, man hatte keine Vorlaufzeit, keine Zeit, um sich eine Struktur aufzubauen und niemand wusste, wie lange dieser Plan überhaupt anhalten musste. …
An Tag zwei habe ich räumliches Tetris gespielt.
Möbel verschoben, Ecken freigelegt, einen Spielplatz auf dem Balkon errichtet, mit Sandkiste und Spielsachen. …
Wenn einer gereizt war, waren alle gereizt und das hat sich hochgeschaukelt, wenn man auch noch ständig im selben Raum war oder Sichtkontakt hatte. Hört sich vielleicht dämlich an, weil man ja freiwillig zusammenlebt, aber…wie soll ich mich denn, zum Beispiel mit einem Migräne-Anfall, den ich jede Woche habe, eine Stunde alleine hinlegen, wenn das Homeoffice-Büro im Schlafzimmer ist und das Wohnzimmer zur Hälfte Spielzimmer ist, das zudem so intensiv genutzt wird, dass der Lautstärkenpegel immer kurz vor der Eskalation liegt. Es ist für alle nicht einfach.
Momentan fühle ich mich, als wäre ich kein Mensch, sondern etwas, was einfach funktionieren muss. …
…„Ich möchte mich kurz 15 Minuten alleine hinlegen, der Vormittag war sehr anstrengend“ – (Wo?! Ins Homeoffice? Ins Spielzimmer? Leg dich doch in die Küche oder vor die Waschmaschine ins Bad)
…„Ich möchte das Bad jetzt ohne parallele Kinderbeschäftigung putzen“ – (Bitte was?! Mach das doch nachts, wenn alle schlafen)“
Und dann finden sie gemeinsam doch noch eine Lösung: es wird ein durchstrukturierter Tagesplan entwickelt, der von Tag eins an funktioniert und etwas Entspannung in die Situation bringt:
„Ich muss sagen, dass ich wirklich stolz auf mich selbst bin, dass ich ein Organisations- und Planungs-Talent habe, in solchen Ausnahmesituationen hilft das wirklich sehr und ich bin extrem dankbar für diese „Gabe“.“
Marie lenkt den Blick darauf, was das vielgelobte Homeoffice tatsächlich bedeuten kann, wenn die Wohnung klein ist und ein Kind hier auch Raum und Aufmerksamkeit braucht und wie schnell es geht, dass sie als Frau sich in alten Geschlechterstereotypen wiederfindet.
Die Zusammenschau der Beiträge junger Frauen auf meinTestgelände macht deutlich, dass viele Lebenslagen und Probleme im öffentlichen und politischen Diskurs nicht wahrgenommen wurden und damit auch Hilfe nicht stattfand. Die Situation von Jugendlichen/jungen Erwachsenen kamen maximal im Kontext von Schule und Bildung in den Blick, jugendliche Bedürfnisse, Erkrankungen, Behinderungen, Kinder … – all das Themen und Lebenslagen, die unsichtbar und damit ohne Hilfe blieben.
Alle Beiträge zu Corona auf meinTestgelände: https://www.meintestgelaende.de/schlagwort/covid19/
Auf der Website „junge Menschen beteiligen – jumb“ können junge Menschen sich informieren und vernetzen in Zeiten von Corona: https://informiert-und-beteiligt.de/
Drin. Claudia Wallner – Projektleitung meinTestgelände