Was Jugendliche über Sexualität zu sagen haben – und was wir daraus lernen können

Aufgeklärt? Finola Nieratschkers Einordnung der Beiträge von Jugendlichen macht ihre Themen und Sorgen sichtbar. Impulse für die intersektionale pädagogische Praxis.

Auf die Frage, was Sexualität ist, hat Avodah Offit (Das sexuelle Ich, 1979) geantwortet: „Sexualität ist was wir daraus machen. Eine teure oder billige Ware, Mittel zur Fortpflanzung, Abwehr gegen Einsamkeit, eine Form der Kommunikation, ein Werkzeug der Aggression (der Herrschaft, der Macht, der Strafe und der Unterdrückung), ein kurzweiliger Zeitvertreib, Liebe, Luxus, Kunst, Schönheit, ein idealer Zustand, das Böse oder das Gute, Luxus oder Entspannung, Belohnung, Flucht, ein Grund der Selbstachtung, eine Form der Zärtlichkeit, eine Art der Rebellion, eine Quelle der Freiheit, Pflicht, Vergnügen, Vereinigung mit dem Universum, mystische Ekstase, Todeswunsch oder Todeserleben, ein Weg zu Frieden, eine juristische Streitsache, eine Form, Neugier und Forschungsdrang zu befriedigen, eine Technik, eine biologische Funktion, Ausdruck psychischer Gesundheit oder Krankheit oder einfach eine sinnliche Erfahrung.“ 

Aus dieser Beschreibung geht die Vielfalt, die Individualität und Subjektivität von Sexualität hervor. Ein*e Jede*r von uns würde den eigenen Fokus wohl auf unterschiedliche Aspekte legen und weitere Bestandteile nennen und gewichten.

Auf meinTestgelände haben Jugendliche die wertvolle Möglichkeit genutzt, sich auf ihre Weise mit den vielschichtigen Phänomenen und Fragen des Themenbereiches Sexualität auseinanderzusetzen. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund der auch im Jahre 2021 vorherrschenden Tabuisierung des Themas vorbildhaft!

Sexualität und Handicap

So z.B. beschäftigt sich der „story teller“ Peter Burhorn in dem Artikel „Das Bedürfnis“ (Das Bedürfnis – meinTestgelaende.de) mit dem Zusammenspiel von Männlichkeit, Behinderung, Diskriminierung und Sex und weist darauf hin, wie schwierig es ist, ein erfülltes Sexualleben zu führen, das den eigenen Bedürfnissen entspricht, wenn ein Handicap vorliegt. An dieser Stelle benennt er die doppelte Tabuisierung in unserer Gesellschaft von Sexualität und Behinderung. Dem Wunsch von Peter Burhorn nach einer sexuellen Beziehung kann er aufgrund gesellschaftlicher Barrieren nicht nachkommen. Sein Bedürfnis nach Nähe, Beziehung und Zweisamkeit bleibt unerfüllt.

Sexuelle Bildung

Sexuelle Bildung ist in Liliths Beitrag „Liebe, Sex, Familie – worüber unsere Jugend zu wenig Bescheid weiß“ (Liebe, Sex, Familie – über was unsere Jugend zu wenig Bescheid weiß  – meinTestgelaende.de) das Schlüsselthema. Lilith hat durch die Präsentation einiger Studienergebnisse herausgearbeitet, dass unsere Jugend zu wenig sexuelles Wissen hat. Durch die Tabuisierung des Themas gibt es zu viele Wissenslücken, zu wenig sexuelle Aufklärung durch Schule oder Familie und daraus resultierend eine enorme Sprachlosigkeit. Diese führt dazu, dass sich Jugendliche bei Problemen in punkto Sexualität nicht anvertrauen, weil sie die Worte nicht haben und keine geeigneten Ansprechpersonen finden.

Sichere Verhütung: Auch eine Frage der Bildung

Florian kommentiert in seinem Beitrag „Verhütung-Männer- oder Frauensache“ auf meinTestgelände (Verhütung – Männer- oder Frauensache? – meinTestgelaende.de), dass es aus seiner Sicht in der Verantwortung beider Partner liegen sollte, sich um die Verhütung zu kümmern und nicht allein den Frauen oder Männern zugesprochen werden sollte.

„Wie gesagt, beide Akteure des Aktes sind verantwortlich für ihr Wohl und ihre Zukunft. Paare sollten sich absprechen, Erfahrungen teilen und für sich einen Weg finden, wie sie verhüten wollen und gegenseitig darauf achten, dass die Bedingungen auch erfüllt sind. Meine bevorzugte Methode ist das Kondom, da meine Freundin schlechte Erfahrungen mit der Pille gemacht hat. Klar ist es schöner ohne, aber für ihre Gesundheit gehe ich gerne Kompromisse ein. Wir achten beide darauf, dass immer ein kleiner Vorrat vorhanden ist und das macht schonmal viel aus.“

Florian spricht den gleichberechtigten und respektvollen Umgang mit Verhütung an. Dass Florian, als Vertreter der männlichen Sicht, diesen Aspekt öffentlich macht, ist hoffnungstragend. Nichtsdestotrotz beschreiben viele Mädchen in der pädagogischen Landschaft, dass sie sich in Bezug auf Sexualität mit vielen Ungleichbehandlungen zwischen den Geschlechtern konfrontiert sehen.

Mädchen* und sexualisierte Gewalt

So erscheint es nicht verwunderlich, dass Lilith auf meinTestgelände mit ihrem Artikel „Liebe, Sex, Familie – über was unsere Jugend zu wenig Bescheid weiß“ (s.o.) Mädchen* als besonders betroffenes Geschlecht anspricht. Sie bezieht sich dabei auf die Häufung von sexuellen Grenzverletzungen gegenüber Mädchen und der Tatsache, dass das Image von Mädchen* mit wechselnden Sexualpartnern sehr viel negativer eingestuft wird als von Jungs*.

Tatsächlich belegen sowohl Hellfeld- als auch Dunkelfeldstudien (z.B. der WHO), dass Mädchen einer erhöhten Gefahr ausgesetzt sind, Betroffene von sexualisierter Gewalt zu werden. Neben dem Aspekt von Behinderung ist das Geschlecht also ein evaluierter Risikofaktor für sexualisierte Gewalt. In den meisten Fällen (80-90%) geht die Gewalt von Jungen* oder Männern* aus.

Hier kann die geschlechtersensible Pädagogik einen bedeutsamen Beitrag zur Prävention sexualisierter Gewalt leisten. Um die Gewalt von Jungen oder Männern gegenüber Mädchen oder Frauen zu verringern, müssen Mädchen und Jungen früh die Möglichkeit erhalten, sich unabhängig von geschlechtsspezifischen Rollenmodellen zu entwickeln.

Sexuelles Selbstbewusstsein

Die GRRRLS Voice nehmen auf den Aspekt des „sexuellen Selbstbewusstseins“ bei meinTestgelände Bezug, indem sie ein Video von Lu Likes kommentieren (GRRRLs Voice kommentiert: Lu Likes über sexuelles Selbstbewusstsein – meinTestgelaende.de). Interessant ist hierbei, dass sie feststellen, dass das Grenzen setzen gegenüber sexuellen Handlungen, die sie nicht wollen, gelernt werden muss. Dafür braucht es Vorbilder und eine Sprachfähigkeit. Wenn Mädchen mit einem sexuellen Selbstbewusstsein andere motivieren wollen, sich im Nein sagen zu üben, dann muss dieses authentisch – persönlich und nicht oberflächlich passieren, weil frau es sonst nicht annehmen kann. Dieser Aspekt ist auch für die sexualpädagogische Praxis von immenser Bedeutung. Es hilft den Jugendlichen wenig, wenn sie Ratschläge in punkto sexuelle Selbstbestimmung in Form von „Schlägen“ erleben, die von oben herab nichts mit ihrer Lebenswelt zu tun haben. Die Begleitung von Jugendlichen – egal welchen Geschlechts – sollte auf Augenhöhe, kultur- und identitätssensibel stattfinden, ohne den erhobenen Zeigefinger und das Skizzieren von Angstszenarien. Prävention von sexualisierter Gewalt, sexuell übertragbaren Krankheiten, ungewollter Schwangerschaft, etc. ist im partizipativen Dialog mit den Jugendlichen authentisch zu gestalten, damit sie greifen kann. Hierbei ist es den GRRRLs wichtig, dass unsere heteronormative Gesellschaft reflektiert und sexuelle Vielfalt und Diversität mitgedacht wird.

Körper und Sexualität

Memo beschreibt in seinem Gedicht „Mein Körper – mein Recht“ auf meinTestgelände (Mein Körper, mein Recht – meinTestgelaende.de) auf sehr persönliche Weise, wie ihm durch die Tabuisierung des Themas Sexualität im Elternhaus ein positiver Zugang zum eigenen Körper und der eigenen Sexualität verwehrt wurde. Memo erlebt jeglichen Gedanken an Sexualität als etwas Schuldhaftes. Er empfindet den Drang nach Aufklärung als eigene Freiheit, die ihm genommen wurde. Sexualität wurde in seinem Elternhaus verteufelt, als etwas Schlechtes dargestellt, was mit Vorwürfen, Schuld und Verwirrung einherging. Memos Gedicht kann eindrücklich als Plädoyer für Sexualerziehung mit positiver Konnotation verstanden werden. Sexualerziehung bedeutet Persönlichkeitserziehung und fördert erwiesenermaßen eine gesunde sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Diese Erkenntnisse stehen den Warnungen von religiösen Gruppen, Rechten und konservativen Kräften wie der AfD oder den „besorgten Bürgern“ zu Recht entgegen!

Memos Beispiel zeigt auch, dass sexuelle Bildung nicht nur auf das Elternhaus beschränkt sein darf, sondern ebenfalls in Schule stattfinden muss, um Sprachlosigkeiten und Unwissenheiten durch fehlende elterliche Präsenz auszugleichen. 

Rassismus und Sexualität

Schule kann außerdem der Ort für Jugendliche sein, wo Diskriminierungen und Anfeindungen, z.B. von ausländisch gelesenen Menschen bezüglich Sexualität thematisiert werden. Der Text „Wem gehört deine Schönheit?“ von der Redaktionsgruppe Anonymus auf meinTestgelände (Wem gehört deine Schönheit? – meinTestgelaende.de) zeigt das Spannungsfeld zwischen pauschalen Zuschreibungen an ´arabisch aussehende´ junge Männer und der Lebensrealität eines jungen Mannes, der keinerlei körperliche Erfahrungen mit Mädchen hat – weshalb ihn die nonverbalen Zeichen und die Ablehnung besonders schwer treffen. 

Was in diesem Text der Anonymus anklingt, ist ein Phänomen, das medial z.B. nach der Silvesternacht in Köln, wo es zahlreiche sexuelle Übergriffe von männlichen Tätern mit nordafrikanisch-arabischen Wurzeln auf Frauen gab, unterstrichen wird. Die Fokussierung von Berichterstattung von Geflüchteten als Täter bei gleichzeitiger Ausblendung der Tatsache, dass Täterschaften unabhängig der kulturellen Herkunft in Deutschland stattfinden, schürt den Eindruck, dass von ausländisch aussehenden Männern eine erhöhte Gefahr ausgeht.

Der Text zeigt, wie selten die Perspektive derjenigen zu Wort kommt, die sich in der Gruppe der „falsch Beschuldigten“ fühlen. Bei dem Themenkomplex von sexualisierter Gewalt unterliegen die Aspekte von „männlicher Opferschaft“ als auch „weiblicher Täterschaft“ blinden Flecken und Forschungslücken! Die Gendersensible Pädagogik kann und muss an dieser Stelle mit dem Aufweichen von tradierten Rollenzuschreibungen gegensteuern.

Jugendliche erfahren sexualisierte Gewalt nicht nur durch Erwachsene in ihrem Nahfeld, sondern auch durch Gleichaltrige, in der Schule, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Raum, auf Partys, im Internet oder in (Ex-)Beziehungen. Das bedeutet für die Konzeption präventiver Maßnahmen, verstärkt auch die Lebenswelten und Perspektiven der Jugendlichen in den Blick zu nehmen und ihre Handlungskompetenz und Fähigkeiten zum (Selbst-)Schutz zu stärken.

Schlechte Anmache

Adrians Aussage bezüglich der Frage von „Gute vs. Schlechte Anmache: Darauf kommt´s an!“ (https://www.meintestgelaende.de/2016/09/gute-vs-schlechte-anmache-darauf-kommts-an/)  betont die Notwendigkeit, körperliche Übergriffe gleich zu bewerten – unabhängig vom Geschlecht. Dass Jungs und Männer ebenfalls von sexualisierter Gewalt betroffen sind, wird gesellschaftlich nach wie vor zu wenig thematisiert und Täter- und Opferschaften in typischen Rollenzuschreibungen „typisch männlich – typisch Täter“ und „Typisch weiblich – typisch Opfer“ einsortiert. Somit wird das Benennen von Übergriffen auf Jungen und Männern erschwert und weibliche TäterInnen häufig übersehen.

LSBTIQ+* und Sexualität

meinTestgelände ermöglicht es Jugendlichen, sich zu den Lebenswelten von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen, Intergeschlechtlichen und Queeren+* Jugendlichen zu äußern und Stellung zu beziehen. So spricht sich Aminta für den Erhalt von TRACK (https://www.meintestgelaende.de/2016/01/der-track-ein-ort-fuer-identitaet-und-sexualitaet/) aus. Sie beschreibt wie wichtig dieser Jugendtreff für Jugendliche aus der LGBTIQ+*-Szene ist, um einen Ort für die eigene Identität und Sexualität zu haben und sich zugehörig unter Gleichgesinnten zu fühlen.

Aminta thematisiert aus eigener Perspektive, was u.a. Domann und Rusack in ihrem Bericht (Domann, Sophie/Rusack, Tanja: Wie sehen Jugendliche Gender und Sex in öffentlicher Erziehung? Rekonstruktionen der Perspektiven von Adressat_innen der Kinder- und Jugendhilfe, GENDER, 3-2016, S. 81-97.) beschreiben. Hier heißt es: „Insgesamt würden die Themen Gender und Sexualität in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe wenig Raum einnehmen und wenn, würden sie häufig „heteronormativ“ hervorgebracht stereotype Vorstellungen von „geringer Diversität“ bedienen. Sexualpädagogische Angebote mit dekonstruktivistischen Ansätzen würden von den Fachkräften nicht eingesetzt. Dies führe dazu, dass Sichtweisen der Jugendlichen häufig unberücksichtigt blieben, obwohl die Themen Sexualität, Paarbeziehungen und Gender für sie wichtig seien (Doman/Rusack 2016, S.82).“

Es braucht also Fortbildungen und eine begleitende Sexualpädagogik für einen selbstbestimmten und verantwortungsbewussten Umgang mit Sexualitäten, Gender und sexuellen Identitäten. Die Kinder- und Jugendhilfe sollte diese Themen zudem in den jeweiligen (sexualpädagogischen) Angeboten aufgreifen und entsprechend abbilden. Denn die Auseinandersetzungen der Jugendlichen mit ihren eigenen Körpern folgen vor allem Genderstereotypen. Sexualität wird in den Einrichtungen zudem häufig auf die (vermeintlichen) Gefahren reduziert, wodurch den Jugendlichen oft nicht bewusst wird, was erlaubt ist und mit wem genau sie dies besprechen müssen oder können.

Victim blaming

Die Autorin Fee bringt mit ihrem Text „von hier an nackt“ (Von hier an nackt – meinTestgelaende.de) das Prinzip von „Viktim blaming“ zur Sprache. Fee beschreibt eindrücklich, in welcher verzwickten Situation sich Mädchen und Frauen bezüglich ihrer Kleidung und ihrem Aussehen bezogen auf die Schuldzuweisung von sexualisierter Gewalt befinden. Fee spricht den Zusammenhang von sexualisierter Gewalt, Schuld und Verantwortung an. Gesellschaftlich wird immer noch viel zu häufig den Betroffenen von sexualisierter Gewalt eine Mitschuld unterstellt, weil sie sich zu aufreizend gekleidet, sich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort befunden oder sich anderweitig fehlerhaft verhalten haben. Die Gewalt seitens der Täter*innen wird damit unterwandert und verwässert.

Die Organisation „Pink Stinks“, die sich gegen Sexismus und Antifeminismus einsetzt, werben mit dem Slogan „My Dress is not a Yes“ und verweisen damit direkt auf Fees Statement, dass die Art der Kleidung keine Einladung für die Ausübung von Gewalt ist und diese auch in keiner Weise relativiert oder rechtfertigt.

Mädchen und Frauen erleben an dieser Stelle die immer noch wirkenden Effekte von Unterdrückung, Rollenzuschreibungen und dem männlichen Patriarchat.

Der Straftatbestand der sexuellen Belästigung nach § 184i StGB wurde erst Ende 2016 neu ins Strafgesetzbuch aufgenommen. Danach macht sich strafbar, wer eine andere Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt.

Sexualisierte Gewalt findet statistisch nachweisbar unabhängig von Kleidung und Aussehen statt. Die Gesellschaft muss die Verantwortung für sexualisierte Gewalt an diejenigen adressieren, die die Taten ausüben – Betroffene brauchen Unterstützung, keine Schuldzuweisungen. Strukturell ist es unser aller gesamtgesellschaftlicher Auftrag, Gewalt durch Werte wie Respekt, Wertschätzung, Empathie, Selbstbewusstsein und grenzwahrenden Umgang zu minimieren!

Das Gendermagazin meinTestgelände macht vor, wie dies partizipativ mit Jugendlichen gelingen kann – selbstwirksam, offen und authentisch!