Wann sprechen Jungs* über ihre Körper? Marcel Franke diskutiert Themen junger Autor*innen und Eindrücke aus der pädagogischen Praxis
Als ich gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könnte, ein Seminar zum Thema „Körper“ für eine Jungen*gruppe zu machen, war ich zuerst unsicher, ob ich dazu einen Beitrag leisten könnte. Ich verband die fachliche Beschäftigung mit dem Thema „Körper“ mit Defiziten, Sorgen und Belastungen. Essstörungen, Rückenschmerzen, überzogene und belastende Schönheitsideale, Fitness- und Diätwahn. Jungs, die 5-7 Tage pro Woche im Fitnessstudio verbringen. Jugendkulturelle Trends wie Piercing, Tattoos und plastische Chirurgie. Im ersten Moment war ich überzeugt, dass ich dazu nichts zu sagen hätte.
Aber einen Workshop dazu zu gestalten, hmmm? Na ja, ich beschäftige mich schon sehr lange mit dem Thema „Körper“. Jedoch mit einer anderen Herangehensweise. Der Körper als Ressource, der Körper als Sensorium. Der Körper als Lust- und Genuss-Ort. Und ja, ich sehe den Körper in all seinen Facetten auch aus der Gewaltpräventionsbrille und aus der Suchtpräventionsbrille. Ich durfte lernen, dass die Körpererfahrung in der Gewalt- und Suchtprävention Spaß machen darf und soll.
Das Thema „Körper“ in der Pädagogik und der sozialen Arbeit wird oft aus fachlichen Gründen von einer problematischen Perspektive beleuchtet. Diese „klinische“ Betrachtungsweise ist berechtigt und tut not. Diese ist Teil des Fachverständnisses vieler Kolleg*innen und erklärt sich auch aus Förderlogiken. Bei der näheren Beschäftigung mit den Themen bin ich über das „Mentale Modell der Problem-Lösung“ gestoßen, aus meiner Sicht das vorherrschende Mindset in der Sozialen Arbeit und der geschlechtsbezogenen Pädagogik.
Ist das aber auch das, was Jugendliche zu diesem Thema denken? Dieses Bild zeigt sich, auch wenn wir die Texte, Videos und Audios der Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf www.meintestgelände.de durchgehen. Wenn wir konkret auf die Beiträge von Jungs* sehen, bekommen wir den Eindruck, dass das Thema „Körper“ weniger oft vorkommt als bei Mädchen* und jungen Frauen*. Beim genaueren Betrachten kommt das Thema „Körper“ in verschiedenen Facetten auch in anderen Beiträgen von allen Geschlechtern vor.
Und es lässt sich auch ein anderes Mindset finden. Leise lächelt es hinter den kritischen Analysen hervor und nur wer die Beiträge bis zum Schluss anhört, liest oder sieht, bekommt es mit.
Svenja Gräfen bringt es in ihrem Slam-Beitrag „Körper“ auf den Punkt. „Wir haben alle Körper.“ Sie analysiert auf humorvolle Art und Weise die Geschlechterklischees und Rollenerwartungen. Dabei kommt sie zum simplen Schluss, wenn mensch dem gerecht werden will, „ist man doch am Ende verschuldet oder tot. Und das ist doch beides Scheiße!“ In ihrem Fazit plädiert sie für ein Umdenken, was unseren Körper angeht. „So ein Körper ist unfassbar intelligent. Unser Körper ist unsere eigene Angelegenheit und trotzdem das, was uns mit dem Rest der Welt verbindet. Herzlichen Glückwunsch – Sie haben da einen Körper, das ist unglaublich cool, passen Sie gut drauf auf.“
Sie geht damit in die gleiche Richtung wie die Fachwelt der Gesundheitsberufe, der Mind-Body-Medizin und der Aktivist*innen der Body Positivity-Bewegung.
Ich möchte mit diesem Text einladen, das „Mentale Modell der Body Positivity und des positiven Körperbezugs“ durchzudenken. Das ist mein Zugang zum Thema „Körper“ in der Jungen*arbeit.
Aber lasst uns einfach mal durch das meinTestgelände-Universum surfen und sehen, was alles zum Thema zu finden ist.
Die Hollies zeigen mit ihrem Video „Körper sein!“ ein berührendes Statement zu mehr Selbstbestimmung über den eigenen Körper: „Ich bin dick, ich bin dünn, ich bin hässlich, ich bin schön!“
„Schön“ bringt mich zu einem starken Text von Dominik Erhard – Zugabe. Er reimt von Pointe zu Pointe und teilt mit uns die Reflexion zum „sich selbst schön finden“. Er kommt wie Svenja Gräfen zu Schönheitsprodukten und Versprechungen, die sich als „leer“ herausstellen. „Und wenn du dich das nächste Mal im Spiegel triffst, dann sei stolz auf dich, du bist perfekt.“
Und ich fühlte mit, als Abdul die Geschichte von der Bomber-Plüsch-Jacke mit Kunstfell erzählte. Seine Erfahrungen beschreiben sehr gut die Dynamik, die in der Geschlechterforschung – Sanktionen aufgrund des Abweichens von geschlechtskonformem Verhalten – genannt wird. Die Schwere seiner Schilderung resultiert nicht zuletzt daraus, dass die Ablehnungen von seinem neuen Outfit nicht von irgendjemandem von der Straße ausgingen, sondern von seinen Nächsten. Er beschreibt sehr bildhaft, wie heftig das auf ihn wirkte. Wenn wir uns vorstellen, wie es einem Kind mit solchen Ablehnungen geht, dann verstehen wir auch die Notwendigkeit für Elternbildung im Bereich von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt.
Da der Text unter die Haut geht, kratzt Abdul die emotionale Kurve mit Sarkasmus und kommt dann zur klaren Ansage: „Heterosexuelle müssen sich für Sexualitäten stark machen, und zwar für alle!“ Ich verstehe seine Botschaft als klaren Aufruf an all jene mit Privilegien, sich für benachteiligte Gruppen und Personen stark zu machen.
Als letztes Beispiel möchte ich einen weiteren Text mit einem besonderen Thema der heutigen Zeit erwähnen. Neben Abduls Reflexion über die Wirkung von Kleidung fragt sich Tom: Was ist Nacktheit – für und in (unserer) Gesellschaft)?
Tom reflektiert über das gesellschaftliche Phänomen, dass wir uns nicht nackt zeigen dürfen. „Für manche Menschen bedeutet Nacktheit Selbsterfahrung, in unserer Gesellschaft steht Nacktsein gerne für Freizügigkeit. Doch wirklich nackt können wir uns nur selten zeigen.“ Sexualforscher*innen sehen auch diesen Trend und bewerten ihn als körper- und lustfeindlich. Tom fasst das Phänomen zusammen und bringt es auf den Punkt: „Ungewollte Sexualisierungen und Missbrauch von Nacktbildern online oder offline können die Konsequenz sein. Auch die ständige Bewertung unseres Körpers und die Idealbilder in der Werbung und bei Instagram hemmen uns.“
„Statt bei uns selbst zu sein, haben wir lieber auf andere gesehen.“
Er geht mit seinem Text auf ein wichtiges Thema in der Jungen*arbeit ein: Scham und Beschämung. Wenn wir die Jungs* fachlich gut mit ihren Themen begleiten wollen, müssen wir gut mit dem Thema „Scham und Beschämung“ umgehen und genau diese Emotionen kommen auch beim Thema „Nacktsein“ ins Spiel.
Unsere Zeit zeichnet sich durch ein sensibles Umgehen mit Grenzen und einem neuen Verständnis von Freiwilligkeit und Einverständnis aus. Neben diesem positiven Trend gibt es auch eine juristische Perspektive auf das Thema „Nacktheit“. Gesetze zum Schutz vor Kinderpornografie und sexuelle Ausbeutung lassen uns mit Nacktheit anders umgehen. Eltern zeigen sich vor ihren Kindern seltener nackt und Sportvereine haben Schutzkonzepte, in denen diese Punkte genau geregelt sind. Im Sinne des Kindeswohls sind das sehr gute und wichtige Entwicklungen. Gleichzeitig ist Nacktsein keine Grenzverletzung und so schlägt das Pendel in eine überzogene Vorsicht. Die Gesellschaft wird diese Fragen in den nächsten Jahren weiter ausverhandeln.
Leider ist in diesem Punkt die Selbstbestimmung in weiten Teilen auf der Strecke geblieben. Dies fasst Tom für sich so zusammen: „Wann ich mich nackt zeige, entscheide ich nicht nach Gefühl, sondern nach Abwägung der Pros und Cons in der jeweiligen Situation, im jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld. Wie nackt dürfen wir uns zeigen? Wie frei(zügig) dürfen wir sein?“
Ein aus meiner Sicht negativer Nebeneffekt ergibt sich dadurch, dass die Jugendlichen keine „echten“ Menschen mehr nackt sehen und die Körperbilder durch Fotomontage, Bodymakeup usw. aufgehübscht zu sehen bekommen. Da kann das echte und „ungehübschte“ Selbstbild leiden.
Aber auch im Text von Tom kommt ein Plädoyer für Selbstbestimmung und ein körperpositives Mindset. Er beschreibt die Erfahrungen seiner ersten Nacktfoto-Session mit diesen Worten:
„Ich wollte bei mir selbst sein. Ohne Bewertung meines Körpers von mir selbst und der Gesellschaft. Nackt. Frei. Und letztendlich für alle, die diesen Text gelesen haben, sichtbar. Ich pose für mein erstes Nacktshooting. Entstanden sind Momente, die nicht nur meinen Kopf frei von Gedanken über Nacktheit gemacht haben, sondern auch Bilder, die mir sagen: Du bist jederzeit nackt so schön, wie du dich in dem Moment (wohl)fühlst.“
Zum Schluss noch ein kleiner Einblick in die Praxis der Jungen*arbeit. Ich habe drei Kollegen* um Wortspenden zu diesem Thema gebeten.
Alle drei haben eine profeministische Haltung und beschäftigen sich medienkritisch mit Geschlechterverhältnissen. Interessant fand ich, dass sowohl bei ihnen als auch bei mir das Thema „Körper“ in den Workshops mit den Jungs* problemorientiert besprochen wird.
Alle drei haben von Interventionen und Achtsamkeitsarbeit in Bezug auf Gewalt und Grenzüberschreitungen erzählt. Sie arbeiten mit den Jungs* generell zum Thema Geschlechterrollen, geschlechtergerechte Gesellschaft und Berufs- und Lebensplanung. Das Thema „Körper“ wird immer wieder von den Jungs* in Bezug auf Fitness, Ernährung für den Muskelaufbau zum Thema gemacht. Das Thema „Sexualität*en“ wird auch oft von den Jugendlichen angesprochen und nachgefragt. Selten aber doch kommen Themen wie Mode, Figur, Diäten oder Körperbilder in den Medien vor. Das Thema „Berührung“ kommt nur in Form von Begrüßungsritualen, sich stoßen oder den „Freudensumarmungen“ bei sportlichen Erfolgen vor. Selten konnten die Kollegen beobachten, dass Jungs* während des Workshops Berührungen austauschten. Angst vor Sanktionen für geschlechtsabweichendes Verhalten und Angst vor Homophobie sind die Annahmen für die Distanz in den Jungen*workshops.
Ein Fachmann* hat bei der Frage nach „Körper in der Jungen*arbeit“ auch seine körperliche Wahrnehmung mit eingebracht, nämlich seine physische Präsenz und Aufmerksamkeit. Das ständige Wahrnehmen der eigenen Gefühle und der Körpermomente wie Anspannung spüren oder Ruhe ausstrahlen. Skills, die in der Jugendarbeit und im Begleiten von niederschwelligen Gruppensituationen nötig sind.
Beim Zusammentragen der Eindrücke aus der Praxis ist mir aufgefallen, dass weder bei mir, noch bei den drei Jungen*arbeitern die Schönheitsideale der Medien Thema von Workshops sind. Das komme zwar ab und an vor, werde aber nicht explizit angefragt oder angeboten. Das Thema „Body Positivity“ würden sie auch nicht im Rahmen von Jungs*workshops besprechen.
Wo gehen Jungs* mit ihren Körper-Themen hin? Dass es negative Folgen aufgrund von Schönheitsidealen gibt, ist Fakt. Essstörungen bei Jungs* steigen an. Der Druck aufgrund von Körperbildern via Pornografie und Social Media auch. Wie kann die Jungen*arbeit die Jungs* bei diesen Themen begleiten?
Braucht es eine body-positive Bewegung von und für Jungs*? Wie könnte so eine Bewegung aussehen? Wie könnten Themen wie „Sinn und Sinnlichkeit“ mit Jungs* und jungen Männern* aufgegriffen und besprochen werden? Sind diese Fragen in der geschlechtergerechten Bildungsarbeit verortet oder sollten diese in der Gesundheitsprävention angesiedelt sein?
Wie auch immer diese Fragen beantwortet werden, die Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben sich schon auf den Weg gemacht.
Plattformen wie www.meintestgelaende.de sind wichtige Alternativen zum Mainstream. Ein sicherer Ort, an dem Meinungen und Wissen geteilt werden können. Dies ermöglicht es, diese Fragen zu verhandeln und neue Wege zu ebnen. Ich freu mich auf weitere Beiträge von Jungs* und möchte hier alle ermutigen, mit dem Mentalen Modell von positivem Körperbewusstsein Junge*arbeit zu gestalten. Es lässt uns spüren, dass wir lebendig sind.